Totenruhe
Plätze frei waren. Die beiden Männer steuerten die Bekannten an. Frau Witte freute sich. »Einen schattigen Platz mit kühlem Bier, was wünscht der Mensch sich an einem Sommerabend mehr?«
»Mir fallen noch mehr Wünsche ein«, brummte der Pastor »Es soll keiner glauben, wir Alten hätten keine Wünsche mehr.«
»Tatsächlich? Und was wünschen Sie?« Simone Witte war gespannte Aufmerksamkeit.
»Na ja, dass Hannover 96 nach 60 Jahren zum dritten Mal Deutscher Meister wird. Dass mal wieder einer sagt: Die Renten sind sicher. Dass hin und wieder ein Junger in der Bahn aufsteht, ohne dass man ihn mit dem Behindertenausweis aus der Sitzschale prügeln muss.«
Joachim Werendt lachte laut und Simone Witte setzte noch einen drauf. »Das ist so gut, das muss ich mir notieren. ›Die geheimen Wünsche deutscher Männer im Rentenalter.‹ Mit Ihnen drehe ich noch einen Film, Herr Pastor.« Der beschäftigte sich jetzt allerdings erst einmal mit dem Naheliegenden, und das war ein Halbliter-Krug Pils, der eben serviert wurde. Lindemann hatte in diesem Moment kein anderes Interesse.
»Haben Sie schon Pläne für neue Aktionen der Bürgerinitiative, Herr Pastor?« Werendt versuchte, das Gespräch in Gang zu halten.
»Wie wäre es denn, wenn wir mal eine schwarze Messe veranstalteten«, provozierte Sauerbier. Doch die Runde nahm es gelassen. »Warum sollen wir nicht mal den Bürgerschreck spielen«, stimmte die Witte zu und hatte mit dem »wir« ihren Beitritt zum Verein erklärt, wie Lindemann sogleich registrierte. Der Pastor hatte sein Stichwort. Er deklamierte.
»Was wollt ihr? Soll ich mit der Rute zu euch kommen oder mit Liebe und mit sanftmütigen Geist?«
»Jo mei, is’ denn scho’ Weihnachten?« Werendt imitierte gekonnt einen früheren bayrischen Fußballstar, der seine bescheidenen Bezüge mit unverbindlichem Geplapper im Werbefernsehen aufbessern musste.
»1. Korinther, Kapitel 4, Vers 21«. Sauerbier spielte seine Trumpfkarte überlegen aus.
»Jetzt ist aber gut«, tadelte Lindemann. Er befürchtete, nach dem nächsten Bier könnte der Pastor in eine seiner berüchtigten Predigten abgleiten. Der verstand den Wink und entschied sich, lieber über das Ableben von Fritz Sellner zu informieren. Simone Witte und Joachim Werendt waren tief betroffen.
»Kilian unter Tatverdacht?« Werendt schaute ungläubig. »Wenn es überhaupt eine Tat gab«, dämpfte Lindemann. »Es kann auch ein Unfall gewesen sein.« »Quatsch«, fiel ihm Sauerbier ins Wort. »Das war ein schändliches Verbrechen, glauben Sie mir.«
»Traust du das dem Kilian zu«, wollte die Witte von Werendt wissen. »Ich traue erst mal jedem alles zu«, antwortete der und gab damit demonstrativ einen Extrakt seiner Lebenserfahrung zum besten.
»Nicht Kilian«, widersprach Sauerbier. »Wer dann?« Die Witte hatte beruflich Blut geleckt. Sauerbier zog sich aus der Affäre. »Es ist zu früh für Mutmaßungen.«
Das Bier schmeckte nicht mehr so gut wie vorher. Also trennte man sich noch vor Sonnenuntergang. Der Pastor ging schnurstracks nach Hause. Vor seiner Wohnungstür saß ein Mann auf der Treppe und wartete. Es war Kilian.
38.
Robert Humdorf schwante Unheil, als ihn Kriminalhauptkommissar Stoll anrief und um ein Gespräch bat. »Schon wieder ein Verhör? Was habe ich diesmal angestellt?« Stoll dämpfte die Erwartungen des Journalisten. »Nur ein Gespräch, von mir aus können wir uns in einer Kneipe treffen.« Nein, dachte Humdorf, das muss nun wirklich nicht sein. In einer Kneipe hatten Biergläser Ohren, und wer mit Stoll gesehen wurde, gehörte mindestens zu den Tatverdächtigen in einem besonderen Fall.
»Ich komme zu Ihnen. Jetzt gleich? Gut. Oder besser: Nicht gut, aber offensichtlich unvermeidlich.«
Stoll ließ Kaffee kommen und setzte sich für eine bessere Gesprächsatmosphäre mit an den Besuchertisch.
»Sellners Tod macht mir zu schaffen«, begann er ohne Umschweife. »Der Mann war möglicherweise nicht ganz das unbeschriebene Blatt, als das er vielen erschien. Was meinen Sie?«
»Keine Ahnung, so gut kannte ich den Sellner nicht.«
»Das wundert mich«. Stoll schaute Humdorf durchdringend an. »Immerhin hat er Ihnen nachgestellt.« Humdorf fühlte seinen Blutdruck steigen. Was wusste Stoll? War er informiert über Sellners Motorradfahrt mit der Harley-Davidson nach Lauenau? Natürlich wusste der Polizeimann Bescheid. Den durfte niemand unterschätzen. Die Flucht nach vorn könnte jetzt von Nutzen sein. Besser selber
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