Totenruhe
Humdorf.«
Kombinationsgabe, ja, die brauchte er. Fakten analysieren und daraus die richtigen Schlüsse ziehen, das allein führte zum Erfolg. Qualifizierte Mitarbeiter und hellwache Informanten waren von Nutzen, aber letztlich nicht entscheidend. Er dachte an Pastor Sauerbier und den Schützenbruder Kilian. Die stocherten mit einer Stange im Nebel, aber er hatte für Klarsicht gesorgt. Gestern in seinem Büro.
»Die Herren Sauerbier und Kilian also. Den Herrn Pastor sehe ich eher zu oft, den Herrn Kilian zu selten. Wir wollten Sie schon zur Fahndung ausschreiben lassen, Herr Kilian. Was ist bei Sellner in der Werkstatt passiert?«
»Deshalb sind wir hier«, bekannte Sauerbier. »Herr Kilian hat etwas beobachtet, das die Sache in einem anderen Licht erscheinen lässt.«
Stoll wurde unwirsch. »Kann uns Herr Kilian vielleicht selbst das Licht erscheinen lassen?« Der allerdings hätte sich lieber hinter dem Pastor versteckt und druckste: »Da war überall Blut, als ich reinkam. Vorher habe ich zwei Männer von unserem Werkschutz eilig aus der Werkstatt rennen sehen.«
Stoll spitzte die Ohren. Das Wort ›Blut‹ hatte ihn elektrisiert. »Was wollten Sie bei Sellner?« »Ich bringe dem einmal im Monat die Schützenzeitung vorbei. Sellner ist in unserem Verein, aber nur passiv.«
»Aha. Und was wollten die Werkschutzleute bei Sellner?« »Ich weiß es nicht.« »Aber die haben Sellner erschlagen?« »Das weiß ich auch nicht. Ich bin schnell weggerannt, aber da war von denen schon nichts mehr zu sehen.« »Haben Sie die Männer erkannt, können sie einen oder beide beschreiben?« »Nein, das ging so schnell und die schauten in eine andere Richtung. In ihren Uniformen sehen die alle gleich aus.« »Waren sie groß oder klein, dick oder dünn?« Kilian schluchzte. »Ich weiß es einfach nicht.« Stoll machte sich Notizen.
»Warum haben Sie uns nicht sofort informiert? Sie haben eine Straftat nicht gemeldet, das ist schon selbst eine Straftat.«
»Aber ich wusste doch gar nicht, was passiert ist.«
»Ach, Sie dachten, da hat sich der Sellner wohl einen mit der Steinplatte verpasst, na gut, ist schließlich seine Sache.«
Kilian schaute verzweifelt auf den Pastor. Der blickte vorwurfsvoll auf Stoll, dessen zynische Redensarten ihm überhaupt nicht behagten. »Herr Kilian hatte Angst, das kann man doch verstehen.«
»Wovor hatten Sie Angst«, wollte Stoll von Kilian wissen.
»Naja, dass man mich verdächtigt. Da war alles voller Blut.«
»Sie verdächtigen doch wohl eher die Werkschutzleute?«
»Wem würde man denn eher glauben, dem Werkschutz der Firma Cordes oder einem Hilfsarbeiter der Firma?«
»Gute Frage«, meinte Stoll. »Ich werde die Antwort herausfinden und sie Ihnen mitteilen.«
Sauerbier räusperte sich. »Da wäre noch eine Sache. Der Totenschein für Preul vor drei Jahren. Den hat Sellner auf Wunsch von Preul gefälscht. Preul wollte toter Mann spielen, weil er offensichtlich Angst vor einer mörderischen Bedrohung hatte. Mehr weiß ich nicht. Die Information stammt von Frau Sellner. Bitte lassen Sie die in dieser Sache in Ruhe. Die kennt keine weiteren Zusammenhänge und ich möchte nicht, dass sie weiß, wie eng ich mit Ihnen kooperiere.«
Der Polizeimann schluckte und unterdrückte einen Kommentar. »Ist schon gut«, beruhigte er den Pastor.
Anschließend fuhr er unverzüglich zu Frau Sellner. Was wusste die über die Werkschützer der Firma Cordes?
»Die kamen manchmal zu meinem Mann. Dann sprachen Sie in der Werkstatt oder auch in der Wohnung.« Wusste sie, worum es ging?
»Denkmalpflege. Mein Mann war doch auch mit der Restaurierung und Pflege von Denkmälern betraut. Die reine Steinmetzarbeit wirft schon lange nicht mehr genug ab.« Über welche Denkmäler denn ganz speziell gesprochen wurde? »Nein, das war mehr so allgemein. Doch Moment mal, einmal ging es sehr intensiv um das Egestorff-Denkmal hinter dem Stadion.«
Stoll fuhr zum Denkmal bei der Straße Am Spielfelde. Das Denkmal war ein kantiger viereckiger Granitklotz, auf dem Arbeiter des Unternehmers Egestorff zu sehen waren. Eine Dreiergruppe in Stein gehauen. In zwei unterschiedlichen Darstellungen. Einmal vor der Schicht, einmal nach der Schicht? Könnte sein, dachte Stoll. Das Kunstwerk sollte den Begründer der Lindener Industrie ehren.
Er setzte sich auf eine Bank vor dem Kunstwerk und schaute genauer hin. Unter den Arbeitern stand ein Text. Es war eher eine Losung, eine Parole, eine ethische Messlatte aus dem
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