Totenruhe - Bleikammer - Phantom
wie wir und …“, sie nickte dem Fernseher entgegen, „verfolgen ein interessantes Programm. Kanal Melanie Kufleitner. Live, in Farbe und vor allem: garantiert werbefrei.“ Ihr Blick streifte ihn, doch es sah so aus, als habe sie Angst davor, ihn längere Zeit anzusehen.
Artur schwieg und ließ ihre Worte auf sich wirken. Dann meinte er mit gedämpfter Stimme: „Wie ist das alles möglich?“
Melanie lächelte gezwungen. „Melanie hat einen Unfall – ist klinisch tot – ihre orientierungslose Seele dringt in die Realität eines Films ein, die gerade von Japan aus geöffnet wird – hinterlässt Spuren im Film, Einzelbilder, wie in Subliminals – und wenn man der Film-Melanie tief genug in die Augen schaut, kann man sehen, was die echte Melanie sieht. Praktische Sache. Leider haben den Film jetzt irgendwelche schwarzen Schemen mit Geweihen auf dem Kopf. Und ich wette, sie zahlen nicht einmal Rundfunkgebühren …“
„Deine Scherze waren schon besser, Melanie“, sagte Artur sanft und verständnisvoll, als wären sie ein Paar. Dann rückte er näher an sie heran, streckte die Arme nach ihr aus, nahm ihren Kopf behutsam in seine Hände und drehte ihr Gesicht in seine Richtung. Sie schloss die Augen, doch er wartete geduldig, bis sie sie wieder öffnete. Dann ließ er seinen Blick mit dem ihren verschmelzen. Sie ließ es zu, aber sie wurde unruhig dabei.
„Siehst du etwas in meinen Augen?“, fragte sie. „Kannst du bis in die Hölle sehen?“
„Die Hölle?“ Artur zuckte ein wenig zurück.
„Das ist es doch, was du gerade ausprobierst, nicht wahr? Du denkst, wenn die Dämonen in unsere Welt hinein blicken können, dann müsste umgekehrt auch von ihrer Welt etwas zu erkennen sein. Vergebliche Liebesmüh. Ich habe es schon vor dem Spiegel versucht – da ist nichts zu sehen.“
„Melanie, ich wollte nicht … wirklich nicht …“
„Du wollest nicht? Gib es doch zu! Es ist doch nicht schlimm. Die halbe Welt sieht durch mich hindurch wie durch eine Linse. Warum nicht du auch? Vielleicht ist es ja meine Bestimmung, nur eine Art Sucher zu sein. Es kommt mir so vor, als wäre ich durchsichtiger als Dorothea. Dorothea wird allmählich immer besser sichtbar. Heute Morgen konnte ich sie ganz deutlich erkennen, und ich kann dir sagen, was sie anhatte, was sie zum Frühstück aß. Aber ich … ich bin doch nur noch eine wandelnde Kamera!“
Artur legte seine Hand auf die ihre. „Beruhige dich, Melanie. Du bist durcheinander. So kenne ich dich gar nicht.“
„Mir ist auch noch nie vorher so etwas Verrücktes passiert“, entgegnete sie kleinlaut. Ihre Stimme hatte einen jammernden Unterton angenommen, den Artur aus ihrem Mund zum ersten Mal hörte.
„Melanie, du verstehst nicht. Ich habe in deine Augen gesehen, weil ich dich sehen wollte, nicht irgendetwas anderes.“
„Die Leute gehen mir aus dem Weg, weil sie sich beobachtet fühlen.“
Artur machte ein strenges Gesicht. „Das bildest du dir ein. Du selbst bist es, die sich nicht traut, die Menschen anzusehen. Gerade eben hast du versucht, dich von mir abzuwenden! Das ging von dir aus, nicht von mir.“
„Niemand weiß, was in diesem Moment hinter meinen Augen ist!“, rief sie. „Aus welchem finsteren Loch heraus ihr alle beobachtet werdet. Es ist ganz normal, dass ich mir Gedanken mache – dass alle sich Gedanken machen. Gott, vielleicht sollte ich mich auf das besinnen, was die Mönche in diesem Kloster mir vorgelebt haben. Vielleicht wäre es besser, gar keine Augen zu haben als … als …“
„Ich denke, wir sollten im Moment nicht über dich reden“, sagte Artur hart. „Das führt nicht weiter, solange du nicht zur Ruhe gekommen bist. Du brauchst ein bisschen Zeit. Ein bisschen langweiligen Studentenalltag, ein paar lästige Hausaufgaben, staubige Stunden in der Bibliothek, nicht zu vergessen Ekaterinis gute Küche. Reden wir lieber über etwas anderes. Über Madoka zum Beispiel.“
Tränen waren in Melanies Augen getreten, und sie hatte sich verschämt abgewandt. Tränenausbrüche waren weiß Gott nicht ihr Stil. Nun, da Artur Madoka erwähnt hatte, sah sie ihn wieder an. „Du vermisst sie“, stellte sie fest. „Du hattest erwartet, dass sie mit mir zusammen zurückkehrt.“
„Ja, das hatte ich tatsächlich erwartet. Und ja, ich vermisse sie“, erwiderte Artur aufrichtig. „Ist das schlimm?“
Melanie ballte die Hände zu Fäusten und entspannte sie wieder, eine Geste, die typisch für sie war, wenn sie nervös wurde.
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