Totenruhe - Bleikammer - Phantom
verfing sich in dem Kristallleuchter und blieb dort hängen. Alle sahen sie nach oben. „Oh, eine Damoklesgabel“, kommentierte Harald. Traude Gunkel sah ihn mit einem Blick an, der nicht mehr viel böser werden konnte.
Werner fuhr irritiert fort: „Statt des Unterrichts werden wir eine … eine Diskussionsrunde abhalten. Um vollzähliges Erscheinen wird gebeten.“
„Es wird nicht gebeten“, korrigierte die Gunkel. „Wir haben hier einen Imperativ. Mein Unterricht würde nicht abgesagt, wenn es sich nicht um eine Angelegenheit höchster Brisanz handeln würde.“
„Eine Diskussion – worüber?“, erkundigte sich Sanjay.
Werner erwiderte: „Über ein Thema, das über die Zukunft unserer Schule entscheiden wird.“
Das vielstimmige Raunen ließ nicht lange auf sich warten. Überall entstanden hastige Gespräche.
„Die Zukunft unserer Schule! Ich wette, es geht um den Eintopf“, sagte Harald lautstark, doch Sanjay, die neben ihm saß, legte ihm die Hand auf den Mund, denn Ekaterini war im Anmarsch.
2
Für eine von ihnen gab es am Abend keine Schulkost.
Sanjay Munda speiste indisch. Die schöne Halbinderin saß einem jungen Mann mit blonden Lockenhaaren gegenüber. Sein Name war Paul. Er hatte sie um 17 Uhr von Falkengrund abgeholt, und sie waren bis nach Offenburg gefahren, wo er arbeitete. Dort begannen sie mit einem opulenten Mahl, das sie von Tandoori-Gerichten über Currys bis hin zu dem hausgemachten Milcheis Kulfi führte. Während des Essens wechselten sich Phasen ausgelassener Konversation mit solchen tiefen Schweigens ab. Das Schweigen allerdings hatte nichts Peinliches an sich, sondern war gefüllt von neugierigem gegenseitigem Beobachten und von Hineinhorchen in sich selbst. Erotik lag in der Luft, eine Art von Erotik, wie sie zwischen Menschen entsteht, die sich vor kurzem noch fremd waren und nun eine unerwartete, plötzliche Nähe erleben.
Sanjay hatte Paul bei einem Einkaufsbummel in Stuttgart kennen gelernt. In letzter Zeit war sie öfters einmal aus dem Schulalltag ausgebrochen. Sie hatte sich einsam inmitten der anderen gefühlt, und sie hatte das Gefühl, die Gemeinschaft würde auseinanderbrechen. Traude Gunkel hatte eine Kälte in die Schule gebracht, die nicht mit Sir Darrens hochnäsiger Strenge zu vergleichen war. Weder Werner noch Margarete kamen auch nur ansatzweise mit ihr zurecht. Dazu gesellten sich die Probleme um Melanie, um diesen Film. Es sah so aus, als wären Melanie und Madoka in Japan auf eine Bedrohung gestoßen, die alles bedeutungslos werden ließ, was sie bisher erlebt hatten. Melanie hatte von Dämonen gesprochen, und Sanjay gehörte nicht zu den Menschen, die so etwas einfach abtun konnten. Sie glaubte an Dämonen – vielleicht war es das indische Blut, das in ihren Adern floss, vielleicht auch ihre Jugend, die sie zum Teil in Indien verbracht hatte.
Und mit Dämonen wollte sie nichts zu tun haben.
Selbst der Geist des Lorenz von Adlerbrunn, so mächtig und furchtbar er auch sein mochte, war letztlich nichts als ein Gespenst, die Seele eines Menschen. Dämonen allerdings waren das reine Böse, Wesen, die keine Gnade kannten. Nicht nur, dass es sie gewöhnlich nicht interessierte, was Menschen von ihnen wollten – sie verstanden die menschlichen Gedanken und Gefühle nicht einmal. Kam es zu einem Konflikt zwischen Dämonen und Menschen, war Kommunikation nahezu unmöglich. Wenn es stimmte, dass nun Dämonen durch Melanies Augen blickten, dann waren sie längst auf Falkengrund aufmerksam geworden, und es blieb nur noch eine Frage der Zeit, bis sie herkamen.
Was für Ziele sie auch immer mit Falkengrund verfolgten, es würde zu einem entsetzlichen Kampf kommen.
Und nicht ohne Blutvergießen abgehen.
Sanjay brauchte Auszeiten. Hatte sie sich früher bei ein paar Yoga-Übungen in ihrem Zimmer oder in der Natur entspannen können, benötigte sie jetzt immer mehr Freizeit, musste beinahe täglich einige Stunden außerhalb des Schlosses verbringen, um sich abzulenken. Kaum war der Unterricht vorüber, setzte sie sich ab, fuhr in die Städte der Umgebung, ging einkaufen, sah sich Filme an, aß auswärts. Ihre schulischen Leistungen litten darunter, weil sie keine Zeit mehr für das Selbststudium hatte, aber das konnte sie sich leisten. Sie war die zweitbeste Schülerin, nach Jaqueline. Zumindest war sie das einmal gewesen.
Irgendwann traf sie Paul.
Er machte frühe Weihnachtseinkäufe für seine vielen Geschwister. Erschöpft und mit leerem Blick hatte er
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