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Totenruhe

Titel: Totenruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Burke
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Ducane entführt worden war.

    Wie ich da im selben Raum mit Mitgliedern beider Familien stand, vor mir das Porträt einer lebhaften jungen Frau, die etwa in meinem Alter gewesen war, als sie ums Leben kam, und in Anwesenheit der beiden mir bekannten Reporter, die viele Artikel darüber geschrieben hatten, war ich einen Moment lang völlig perplex und von Mitgefühl für Lily Linworth überwältigt, die sich in meinen Gedanken von »Ihrer Hoheit« in eine Mutter verwandelte, die sowohl ihr Kind als auch ihren Enkel verloren hatte - und für Warren Ducane, dessen Ausstrahlung einer verlorenen Seele mir nun restlos einleuchtete. So viel auf einmal hereingebrochenes Unheil wäre für jede Familie schwer zu verkraften gewesen. Zwanzig Jahre waren vergangen, doch es waren zwanzig Jahre ohne geliebte Menschen. Ihr Leben war nach dieser Nacht mit Sicherheit ein anderes geworden.
    Doch schon bald begann sich mein Reporterinstinkt zu regen. »Irgendwie seltsam, finden Sie nicht?«, sagte ich zu Kyle. »Ich meine, dass die Entführung in derselben Nacht stattgefunden hat?«
    »Sie ahnen ja nicht, wie seltsam es noch wird«, erwiderte er leise.
    Wir wurden zum Essen gerufen, ehe er mir mehr verraten konnte. Helen saß zwischen Auburn und O’Connor, während man mir den Platz zwischen Kyle und Warren zugewiesen hatte und Lily den Vorsitz führte.
    Während des Essens wurde nur leichte Konversation getrieben. Es gab Lammkeule, die wirklich vorzüglich zubereitet war. Gerade hatte man uns einen Nachtisch aus frischen Erdbeeren und Schlagsahne mit einem Hauch Grand Marnier serviert, als Kyle zu Lily sagte: »Irene ist natürlich zu jung, aber haben Mrs. Corrigan und Mr. O’Connor Ihre Tochter und Ihren Schwiegersohn gut gekannt?«
    Sämtliches Besteckklappern verstummte abrupt.
    Lily antwortete: »Sie kannten Kathleen sehr gut, ja. Aber
ich habe mein Versprechen Ihnen gegenüber nicht gebrochen. Bestimmt fragen sie sich, warum Sie von ihr sprechen.«
    »Weil er ihr ähnlich sieht«, sagte Helen, die Kyle nun unverhohlen anstarrte. »Vor allem, wenn Sie wütend werden, Kyle. Oder - ich weiß nicht - besonders entschlossen dreinblicken.«
    »Worum geht’s denn überhaupt?«, fragte O’Connor gereizt.
    »Mr. Ducane hängt der Theorie an, dass ich sein verschollener Neffe bin«, antwortete Kyle. »Er glaubt so fest an diese Theorie, dass er mir beträchtliche finanzielle Anreize geboten hat, wenn ich mich in Max Ducane umbenenne.«
    Diese Erklärung führte dazu, dass zwischen O’Connor und Warren Ducane ein Streit ausbrach, bei dem O’Connor Warren einen Blödmann und Warren O’Connor einen Wichtigtuer schimpfte, den die Angelegenheit überhaupt nichts angehe. Rasch griff Lillian Linworth in das Wortgefecht der beiden ein: »Ich will nicht behaupten, dass ich keine Zweifel hätte, Conn, aber mittlerweile halte ich es zumindest für möglich, dass Warren Recht haben könnte.«
    »Lily«, entgegnete O’Connor in weitaus sanfterem Ton als gegenüber Warren, »ich verstehe ja, warum du dir wünschst, dass es wahr sein möge, aber das heißt nicht, dass es tatsächlich wahr ist.«
    »Übrigens bin ich anwesend, auch wenn Sie so tun, als wäre ich es nicht«, erklärte Kyle. »Und ich möchte Mr. O’Connor darauf hinweisen, dass ich nicht gesagt habe, dass ich Mr. Ducanes Angebot akzeptieren werde.«
    »Zu uns hat er Nein gesagt«, bestätigte Auburn.
    »Wie bescheiden«, bemerkte O’Connor.
    »Lily, wenn es dir nichts ausmacht«, sagte Helen, »würde ich Irene jetzt gerne bitten, mich nach Hause zu bringen. Ich - ich fühle mich nicht wohl.«
    »Oh, Helen, das tut mir sehr Leid«, sagte Lily. »Ich wollte nicht, dass dich diese Geschichte aufregt oder dass …«

    »Ich weiß, Liebes. Ich weiß. Irene? Macht es Ihnen viel aus, wenn ich den Abend vorzeitig beende?«
    »Überhaupt nicht …«
    »Ich fahre dich, Helen«, erklärte O’Connor. »Ich möchte nicht, dass Miss Kelly irgendwelche Gelegenheiten verpasst.«
    »Was soll das denn heißen?«, fragte ich.
    »›Beträchtliche finanzielle Anreize‹ - hatten Sie es nicht so formuliert, Mr. Yeager? Oder heißen Sie jetzt Mr. Ducane?«
    Ich stand auf, packte mein Schälchen Erdbeeren mit Schlagsahne und zielte auf sein Gesicht. Er schaffte es gerade noch, einen Arm hochzureißen, was das Schälchen immerhin so weit abwehrte, dass es ihn nicht traf, doch sein Inhalt flog weiter und erreichte sein Ziel. Das Schälchen fiel zu Boden und zerbrach.
    O’Connor sagte kein Wort. Er

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