Totenruhe
viel zu tun. Genau wie drüben beim Feuilleton. Mir war unbehaglich zumute, und dieses Unbehagen nahm noch zu, als ich zufällig einen mitfühlenden Blick von Wildman Billy Winters erhaschte.
O’Connor hatte es ihnen erzählt.
Im Lauf der nächsten Stunden erhielt ich mehrere Hilfsangebote, Komplimente für den Beitrag über die Kunstmaterialien und freundschaftliche Ratschläge zum Reporterhandwerk von Redaktionsveteranen, die wochenlang nichts mit mir hatten zu tun haben wollen. Ich überstand den Tag, ohne mein Temperament mit mir durchgehen zu lassen, vor allem weil ich Angst hatte, dass meine kurze Laufbahn im Journalismus beendet
wäre, wenn ich durchblicken ließ, wie ich wirklich über ihren plötzlichen Übereifer dachte.
Als ich am Donnerstag einkaufen war, nahm Tante Mary einen Anruf für mich entgegen. Es war Helen Swan, die fragen wollte, ob ich sie zu einem Abendessen in Lillian Vanderveer Linworths Palast begleiten würde. Mary sagte, ich käme sicher gerne, und fragte, was ich anziehen solle.
Zu behaupten, dass sie mich dann zum Hingehen gezwungen hat, wäre ungerecht. Eigentlich wollte ich mich nicht mit Helen auf einer Gesellschaft in der Villa einer vornehmen Lady treffen, doch ich gab nach, als mir Mary erklärte, dass sie fand, ich müsse die Einladung annehmen. Ich wusste, auf was für einen Wettstreit zweier Willen ich mich einließ, wenn ich gegen Mary protestierte, und zu diesem Zeitpunkt hatte ich nicht mehr so viel Kampfgeist in mir.
Helen begrüßte mich freundlich, als ich sie zu Hause abholte. Es war das erste Mal, dass ich seit Jacks Tod dort war, und ich spürte seine Gegenwart - oder vielmehr seine Abwesenheit. Sie plauderte munter mit mir, während sie ihre Tasche nahm und die Lichter ausmachte, doch ich ertappte mich dabei, dass ich einen alten Sessel anstarrte und daran denken musste, wie Jack Corrigan auf einer der Partys, die er und Helen für die Mitarbeiter der College-Zeitung gegeben hatten, darin saß und eine Geschichte erzählte.
Wir blieben nur so lange, bis sie ihre Schlüssel genommen und die Tür abgeschlossen hatte, was mir auch ganz recht war.
Auf dem Weg zur Villa der Linworths wies sie mich ausdrücklich darauf hin, dass wir, ganz egal, was passierte oder was ich zu hören bekam, auf Einladung einer guten Freundin von ihr an einer privaten Gesellschaft teilnahmen und darüber zu schreiben streng verboten war.
Kaum hatte Lillian Linworths betagter Butler die Tür zur
königlichen Bibliothek geöffnet, sah ich O’Connor. Fast hätte ich mich auf dem Fuße umgedreht und wäre wieder hinausgegangen. Das Einzige, was mich davon abhielt, war, dass er eindeutig ebenso schockiert war wie ich. Wir sahen beide Helen an. Sie lächelte und sagte: »Conn, das ist aber eine angenehme Überraschung …«
Seine Brauen senkten sich, und sein Mund wurde zu einer schmalen Linie, ehe er erwiderte: »Ich bezweifle, dass es für dich eine Überraschung und für Ms. Kelly angenehm ist, mich hier zu sehen.«
Mrs. Linworth überhörte all das und stellte sich mir als Lily vor.
Ich sollte Ihre Majestät mit ihrem Kosenamen ansprechen?
»Conn, würdest du heute Abend als Barkeeper einspringen?«, bat sie O’Connor. »Was möchten Sie, Ms. Kelly?«
Ich bat um einen kleinen Wodka mit Sodawasser und bedankte mich bei O’Connor, als er mir meinen Drink reichte. Beim ersten Schluck stellte ich fest, dass er ungefähr viermal so stark war, wie ich ihn mir selbst gemischt hätte.
Er trank Scotch auf Eis. Während Helen und Lillian umhergingen und plauderten, stand er in betretenem Schweigen neben mir. Mit einer leichten Bewegung seines Handgelenks ließ er das Eis in seinem Glas kreisen und studierte die Eiswürfel, als könnten sie sich überschlagen wie der Würfel in einer Wahrsagekugel und hätten dann die Lösung eines Problems auf der sichtbaren Seite stehen. Auf seinem Gesicht zeichnete sich etwas ab, das entweder vorher nicht da gewesen war, oder das ich nicht wahrgenommen hatte. Es war weder Ärger noch Frustration … davon hatte ich in den letzten Wochen mehr als genug zu sehen bekommen. Traurigkeit womöglich? Vielleicht fehlte ihm Jack.
Auf einmal bekam ich ein schlechtes Gewissen, weil ich ihn die ganze Zeit geschnitten hatte, und überlegte, ob ich mich bei ihm dafür entschuldigen sollte, dass ich mich so bescheuert
aufgeführt hatte, doch ehe ich das Wort an ihn richten konnte, wurden drei weitere Gäste hereingeführt, und O’Connor ging auf sie zu, um
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