Totenruhe
brauchte ich nicht zu befürchten, dass er mich ausspionierte.
Bei John war er nicht ganz so gut angekommen wie bei Lydia und Wrigley. Selbst wenn Ethan es schaffen sollte, sich bei John einzuschmeicheln, würde dies nicht von langer Dauer sein, da war ich mir sicher.
Lydia dagegen stand auf einem anderen Blatt.
Unsere Berufswege hatten sich infolge eigener Entscheidungen auseinander entwickelt. Ich hatte mich dafür entschieden, beim Recherchieren und Schreiben zu bleiben, während sie zur redaktionellen Arbeit übergewechselt war.
Nicht alle Reporter schaffen sich einen Ruf als Autoren. Man kann für eine Zeitung unersetzlich sein, weil man die Hartnäckigkeit besitzt, auch noch die letzten Fakten auszugraben, über das Talent verfügt, das Vertrauen von Menschen zu gewinnen, oder andere Fähigkeiten hat, die beim Sammeln von Nachrichten nützlich sind. Es gibt Reporter, die alles davon beherrschen, aber hinterher unfähig sind, das, was sie recherchiert haben, in klaren Worten zu Papier zu bringen.
Im Gegensatz dazu stehen diejenigen, die nicht darauf kommen, welche Frage sie als nächste stellen sollen, die aber auch noch die langweiligste, verworrenste Geschichte zu etwas umschreiben können, das klar und deutlich formuliert und spannend zu lesen ist.
Lydia war Reporterin und Autorin, doch am besten war sie im Schreiben. Sie hatte noch nicht lange bei den Nachrichten gearbeitet, da wurde sie schon in die Redaktionsabteilung versetzt, dann zur Manuskriptbearbeiterin und anschließend zur stellvertretenden Leiterin des Lokalressorts befördert, wo sie als erste Frau beim Express diese Position bekleidete.
Mittlerweile leitete sie das Lokalressort, und ihre Kompetenz für diese Arbeit stand außer Zweifel. Selbst wenn der Teufel los war, blieb sie ruhig und wies die kritischen Aufgaben denjenigen zu, die am besten mit ihnen umzugehen wussten. Sie hatte ein Händchen für die Verteilung von Themen, und auch wenn es immer jemanden gab, der glaubte, er oder
sie sei der bessere Reporter für diese oder jene Story gewesen, unterstellte niemand Lydia Willkür oder Günstlingswirtschaft. Sie wusste nicht nur, welcher Reporter am besten für ein Thema geeignet war, sondern auch, wie sie aus jedem Mitarbeiter das Beste herausholen konnte.
Sie war für ihre Loyalität den Reportern gegenüber bekannt und dafür, dass sie bei den Chefs für sie einstand. Selbst wenn sie jemanden vielleicht unter vier Augen (in ihrer ruhigen Art) zurechtwies, nahm sie den betreffenden Reporter doch bei John Walters oder Wrigley III. in Schutz. Sie hatte sich sowohl das Vertrauen der Veteranen als auch den Respekt der jüngeren Reporter erworben.
Das Problem war nur, dass ich mir ihrer Fähigkeiten nicht so sicher war, wenn es darum ging, Typen wie Ethan richtig zu beurteilen. Wenn man draußen auf der Straße als Reporterin arbeitet, begegnet man zwangsläufig mehr verschiedenen Menschen, als wenn man in der Redaktion sitzt. Man lernt mit der Zeit, wie die meisten Lügner dreinblicken, wenn sie einem ins Gesicht lügen - natürlich nicht alle, aber der Feld-, Wald- und Wiesenlügner entlarvt sich ziemlich schnell, und irgendwann fällt es auch dem geübtesten Lügner schwer, einem noch etwas vorzumachen. Man kommt dahinter, wer sich als Objekt der allgemeinen Aufmerksamkeit unwohl fühlt, weil er oder sie ein bisschen schüchtern ist, und wer nur darauf hofft, dass man ihm die gefürchtete Frage nicht stellt. Man findet nicht immer heraus, was einem verheimlicht werden soll, aber man spürt fast immer, wenn etwas Wichtiges zurückgehalten wird.
Ich hegte keine Zweifel daran, dass Lydia es merkte, wenn in einem Beitrag etwas unglaubwürdig klang. Aber nun fragte ich mich, ob sie einen Teil ihrer Fähigkeit eingebüßt hatte, Menschen genauso klar zu interpretieren wie Texte.
Dann fielen mir Marks Bemerkungen darüber wieder ein, wie oft Ethan verkatert zur Arbeit erschienen war, und auch,
dass mir entgangen war, dass der kleine Fiesling mir zugesehen hatte, wie ich mein Passwort eingegeben hatte. Offenbar musste ich mir langsam dringend Sorgen über die Funktionsfähigkeit meines eigenen Schwindelsensors machen.
Selbst wenn es Ethan schon einmal gelungen sein sollte, sich in meinen Computer einzuloggen, beunruhigte mich die Vorstellung weniger, dass er sich meine Notizen angeschaut haben könnte. Ich war sozusagen eine Kryptografin der dritten Generation.
O’Connor hatte die journalistische Arbeit von Jack Corrigan gelernt, der
Weitere Kostenlose Bücher