Totenruhe
weitersprach. Doch es war Warren, der das Schweigen brach.
»Der Junge, der mir damals begegnet ist, waren Sie, Kyle«, sagte er.
»Ich?« Kyle lachte verlegen auf. »Nein …«
»Doch. Sie sind mein Neffe«, erklärte er mit Bestimmtheit.
»Mr. Ducane, es … es tut mir Leid, ich möchte Sie nicht verärgern, aber ich begreife wirklich nicht, wie das möglich sein soll. Meine Adoptiveltern haben mir wieder und wieder versichert, dass …« Er senkte den Kopf und murmelte: »Sie haben mir alle beide oft gesagt, dass meine Mutter eine Prostituierte gewesen ist. Mein leiblicher Vater war einer ihrer Kunden. Also falls Ihr Bruder nicht …« Er blickte zu Lillian auf, lief rot an und wandte sich zu Zeke, ehe er sagte: »Nein, das hat er sicher nicht. Es gibt Adoptionsunterlagen. Ich bin immer dankbar gewesen, denn wenn mich die Yeagers nicht adoptiert hätten, hätte ich vermutlich nicht überlebt. Meine leibliche Mutter ist zwei Monate nach meiner Geburt gestorben, und wahrscheinlich wäre ich sonst mit ihr gestorben. Stattdessen wurde ich von einem reichen Ehepaar aufgezogen, habe die Liebe meiner Adoptivmutter bekommen und Privilegien genossen, die jemand von meiner Geburt sich normalerweise nie hätte träumen lassen.«
»Mögen Sie Mitch Yeager?«, wollte Auburn wissen.
Kyle sah ihn erbost an und erwiderte: »Was hat das denn damit zu tun? Er hat mich aufgenommen. Mir Essen und Kleidung gegeben. Und meine Ausbildung bezahlt.«
»Mein Gott«, sagte Lillian leise.
»Ich will nicht behaupten, dass zwischen uns Zuneigung herrscht«, erklärte Kyle. »Ich bin mir sicher, dass ich adoptiert worden bin, weil meine Mutter - also Estelle - sich so sehr ein Kind gewünscht hat. Ich habe sie geliebt, und ich zweifle nicht daran, dass sie mich geliebt hat.«
»Mitch Yeager hat sie misshandelt«, sagte Auburn. »Und kaum war Estelle einen Monat unter der Erde, da hat er eine Frau geheiratet, die dreißig Jahre jünger ist als er, und im Handumdrehen drei Kinder mit ihr in die Welt gesetzt. Er hat getan, was er konnte, um Ihre Existenz aus seinem Gedächtnis zu löschen. Sie sind Mitch überhaupt nichts schuldig, nicht um Ihrer selbst willen und schon gar nicht um Estelles willen.«
Kyle blickte drein, als wollte er etwas entgegnen, überlegte es sich dann jedoch anders. Er ballte die Fäuste und öffnete sie wieder, ehe er sagte: »Was auch immer Sie über meine Mutter wissen oder nicht - ich halte ihr Andenken in Ehren, und deshalb habe ich nicht vor, Klatsch über sie oder ihren Mann mit Ihnen auszutauschen.«
»Ich wollte nicht respektlos ihr gegenüber erscheinen«, erwiderte Auburn. »Aber ich weiß, dass sie sich in ihrer Ehe wie in einer Falle gefühlt hat. Sie fühlte sich zu einer Flucht nicht imstande, aber ich glaube, es hätte sie gefreut, wenn sie gewusst hätte, dass Ihnen jemand die Chance bietet, sich von Mitch Yeager loszusagen. Und zwanzig Millionen Dollar dürften es Ihnen erlauben, den Kontakt abzubrechen.«
»Zwanzig Millionen!«
»Das ist nur ein Teil«, ergänzte Warren. »Zwanzig Millionen Dollar und dazu Immobilien im Wert von …«
Doch Kyle hatte sich wieder gefasst. »So … so verlockend
dieses Angebot auch ist … und so Leid es mir tut, dass Ihnen Ihr Neffe genommen worden ist, ich muss leider ablehnen.«
»Kyle …«
»Nein, Mr. Ducane«, sagte er wütend. »Meine leibliche Mutter mag käuflich gewesen sein, aber ich bin es nicht.« Er erhob sich und sagte zu Lillian: »Wenn Sie mich bitte entschuldigen, Ma’am …«
»Kyle«, sagte sie, »haben Sie es eilig, nach Hanover zurückzukommen?«
»Nein, aber …«
»Soweit ich weiß, wohnen Sie nicht bei Mitch.«
»Nein. Mr. Brennan hat mir hier in der Stadt ein Hotelzimmer gebucht.«
»Würden Sie vielleicht heute Abend zu mir zum Essen kommen?«
»Wenn Sie versuchen wollen, mich zu überreden …«
»Nein, für mich kommt das alles genauso überraschend wie für Sie. Aber ich plane ein kleines Abendessen - wirklich nichts Großartiges - und würde Sie gern ein bisschen besser kennen lernen, ehe Sie wieder abreisen. Und ich habe ein paar Fotos von Estelle, die ich Ihnen gerne geben würde. Aber wenn Sie schon etwas anderes vorhaben …«
»Nein, habe ich nicht.« Er musterte sie eine Weile, ehe er sagte: »Entschuldigen Sie die Frage, aber haben Sie wirklich Fotos von ihr?«
»Ja. Wir sind zusammen zur Schule gegangen.«
Er sah sich im Raum um. »Sind diese Herren auch eingeladen?«
»Nur wenn sie versprechen, Sie mit
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