Totenruhe
Artikel über die Hunde, Kelly.«
Kelly. Nicht Ms. Kelly und nicht Miss Kelly. Wahrscheinlich würden viele Leute das nicht einmal merken, aber für mein Gefühl ist die Art, wie man angesprochen wird, enorm wichtig dafür, wer zum Team gehört und wer nicht. Nachname ohne Zusätze bedeutet, dass man dazugehört.
Allerdings war ich immer noch wütend auf ihn und beschloss,
ihn zu ignorieren, doch er ignorierte mich als Erster und ging einfach weiter.
Später wartete er, bis Mark Baker neben meinem Schreibtisch stand, ging zu ihm und sagte: »Was ich da neulich verzapft habe, war totaler Schwachsinn. Ich wäre dir dankbar, wenn du das alles restlos vergessen würdest.«
»Kein Problem«, erwiderte Mark und sah mich an.
Demonstrativ wandte ich mich wieder der schwarzen IBM Selectric auf meinem Schreibtisch zu. Ich schrieb gerade an einem Beitrag über den erstaunlichen Erfolg der Las Piernas High School bei einem Cheerleader-Wettbewerb. Keine Story, mit der ich den Pulitzer-Preis gewinnen würde, aber dafür schämen musste ich mich auch nicht. Ich hatte ein zitierfähiges Mädchen gefunden, das mir Stoff genug lieferte.
Lydia hatte mir erzählt, dass O’Connor ihr einen Haufen Fragen über mich gestellt hatte. Das beunruhigte mich. Was mich allerdings noch mehr beunruhigte, war, dass sie ihm die meisten davon beantwortet hatte. Ich fragte mich selbst, warum mich das störte, aber mir fiel keine plausible Antwort ein.
Dann kam der Nervenkrieg um die Namensnennung.
Eine Woche nach der Katastrophe auf dem Klo arbeitete ich an einem Artikel über Künstlerbedarf. Auf das Thema war ich ganz zufällig gestoßen - ich wartete auf meinen Vater, der gerade seine letzte Runde Chemotherapie absolvierte, als Tante Mary meine Beklommenheit nicht mehr aushielt und sagte, ich solle ein bisschen spazieren gehen. Also schlenderte ich in Richtung Notaufnahme davon. Und natürlich gab es dort jemanden mit größeren Problemen, als ich sie hatte, nämlich die Mutter eines Teenagers, der im Kunstunterricht plötzlich Halluzinationen bekommen hatte und dann ohnmächtig geworden war. Bis jetzt war er noch nicht wieder zu Bewusstsein gelangt.
»Er nimmt keine Drogen«, versicherte sie. »Ich weiß nicht, wie das passieren konnte.«
Zuerst schrieb ich ihre Äußerung dem »Mein Johnny doch nicht«-Syndrom zu - keine Liebe ist so blind wie Elternliebe.
Doch dann kamen ein paar seiner Freunde vorbei, um mit ihr zu warten, und nachdem ich eine Weile mit ihnen geplaudert hatte, kam auch ich zu der Überzeugung, dass der Junge tatsächlich einer von der drogenfreien Sorte war. Von seinen Mitschülern erfuhr ich Einzelheiten darüber, was abgelaufen war, bevor er zu halluzinieren begonnen hatte.
Ich notierte mir Namen, Adresse und Telefonnummer der Mutter. Als der Arzt herauskam und sie informierte, ließ sie mich zuhören. Ich fragte ihn, ob Chemikalien, die beim Kunstunterricht zum Einsatz kamen, eine solche Reaktion auslösen könnten.
»Denkbar«, erwiderte er. »Aber die Antwort auf diese Frage wissen wir erst, wenn seine Blutwerte aus dem Labor wieder da sind.«
Sobald ich an diesem Nachmittag in die Redaktion zurückkam, rief ich eine Frau im Beschaffungsamt der Schulbehörde an. Ich bemühte mich schon seit längerem darum, ihr Vertrauen zu gewinnen. Sie war eine kleine Informationsquelle, der ich in nächster Zeit mehr zu entlocken hoffte. Eigentlich hatte ich gar nicht vorgehabt, sie schon so bald mit etwas Gewichtigem zu konfrontieren, und im ersten Moment fürchtete ich, dass die Bitte um eine Liste der Kunstmaterialien, die für eine der lokalen Highschools eingekauft worden waren, mehr war, als sie zu riskieren bereit war. Ich hätte zwar Einsicht in die Unterlagen verlangen können, doch das wollte ich lieber nicht tun - wenn man diesen Weg einschlägt, schafft man sich nur zukünftigen Widerstand.
Als ich ihr die Episode aus der Notaufnahme schilderte, schlug sie mir vor, mich vierzig Minuten später in einem Café mit ihr zu treffen. Sie kam und brachte einen dicken Stapel kopierter Rechnungen mit.
»Ich habe einen Sohn im gleichen Alter«, sagte sie und verschwand,
kaum dass sie meinen Dank entgegengenommen hatte.
Ich weiß nicht, wie O’Connor erfahren hatte, dass ich an diesem Thema arbeitete, doch jedenfalls fand er es heraus. Auf meinem Schreibtisch entdeckte ich einen Zettel mit seinem seltsamen, kaum entzifferbaren Gekrakel: Name und Telefonnummer des Zentrums für Sicherheit am Arbeitsplatz in New York,
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