Totenschleuse
umgebende Landschaft verwehrte. »Wie wäre es mit diesem Gemälde hier, Herr Molsen? Welchen Weg würden Sie gehen, links oder rechts?«
»Verschiedene Ermittlungsrichtungen, Herr Kommissar?« Er sah Malbek hämisch an. Irgendetwas flackerte in Molsens Augen. Vielleicht war es nur der Sekt.
»Links ist ein Haus, da ganz hinten, etwas versteckt, nicht gleich zu sehen. Das sieht so ähnlich aus wie meins. Aber da gibt’s natürlich nicht so ein Gestrüpp. In Wirklichkeit ist die Sicht frei.«
»Das denken so viele hier auf Sylt, Herr Molsen«, sagte eine Frau, die plötzlich hinter ihnen stand. »Und Sie sind Gerson Malbek.« Sie gab ihm die Hand. Kein Bussi-Bussi.
Lüthjes Schwester Rita sah seiner Hilly verblüffend ähnlich. Sie sah verdammt gut aus. Allerdings hatte sie glatte Haare wie ihr Bruder Eric Lüthje und keine üppigen Locken wie Hilly.
»Freut mich, Sie endlich kennenzulernen«, sagte Malbek und begrüßte sie mit einem formvollendeten Handkuss. Er war sicher, dass Jette und Hilly ihn beobachteten.
»Eric und Hilly haben mich eben darauf aufmerksam gemacht, dass Sie ein Bild von mir betrachten. Ein seltenes Ereignis auf einer Vernissage. Die Gäste sind immer sehr mit sich beschäftigt.«
»Wir unterhielten uns gerade darüber, welchen Weg Herr Molsen an der Weggabelung einschlagen würde«, sagte Malbek.
»Ja, interessant.« Sie sah Molsen erwartungsvoll an.
»Es könnte ja auch sein, dass ich aus meinem …« Irgendetwas hatte Molsen aus dem Konzept gebracht. »Ich meine, wenn ich aus dem Haus dort auf dem Bild herauskomme und dann zurückblicke auf das Haus … ich meine, das ist der Moment, den das Bild zeigt.« Er sah Rita Lüthje fragend an.
»Und dann? Was machen Sie dann?«, fragte Rita Lüthje.
»Dann bleibe ich da, wo ich bin. Ich warte, vielleicht auf jemanden, der mir auf dem Weg entgegenkommt. Oder nein, es wäre doch besser, ich warte im Haus.«
»Warum?«, fragte Rita Lüthje.
»Ich weiß doch nicht, wer sich da vom Weg her nähert.«
»Sie gehen also davon aus, dass dort jemand mit bösen Absichten kommt?«, fragte Malbek. »Vielleicht ist hinter der Wegbiegung eine lange, gerade Strecke, auf der Sie ihn oder sie schon von Weitem sehen könnten. Sie hätten Zeit, sich auf den Gast vorzubereiten. Auf Freund oder Feind. Das wäre doch leichter auszuhalten.«
»Auszuhalten?«, fragte Molsen irritiert und sah auf das Gemälde. »Wie heißt das Bild eigentlich? Es fehlt das Titelkärtchen.«
»Ich habe das Bild erst in letzter Minute aufgehängt«, sagte Rita Lüthje. »Die Farbe war noch nicht trocken. Daher hat die Galeristin es wohl vergessen, und ich habe es übersehen. Auf der Preisliste ist es jedenfalls.« Sie lächelte. »Es heißt ›Warten‹.«
»Warten?«, fragte Molsen.
Plötzlich schluchzte eine Frau auf. Aus der Diele hörte man aufgeregte Stimmen, ein Schwall kalter Luft durchwehte den Ausstellungsraum. Ein Glas fiel klirrend zu Boden.
»Er ist tot! Er ist tot!«, rief die Frau.
Molsen drängelte sich hastig durch zur Diele. Stille. Flüstern. Eine lange Sekunde, die dem Schrecken Zeit ließ, sich auszubreiten. Jemand klatschte verhalten, dann drei oder vier Gäste.
Ja, es war ein Happening, eine Performance, eine Überraschung für alle! Mitten im Publikum tauchten Schauspieler auf und banden die Gäste in das Geschehen ein! Jeder sah um sich. Wo waren die Schauspieler? Wer tanzte aus der Reihe und gab sich durch lautes Geflüster oder leises Geschrei als Rollenspieler zu erkennen?
Doch in der langen Sekunde der Stille war nur der schwere Atem der Frau in der Diele zu hören. Malbek sah, wie Molsen die Frau am Arm ergriff und sie nach draußen zog.
Der Reeder Axel Molsen als Laiendarsteller? Eine jähe Böe fand den Weg durch die weit geöffnete Tür, in der Diele fiel eine große chinesische Bodenvase um, gefüllt mit nackten, verkrüppelten Zweigen, und zerbrach auf dem Steinboden mit hässlichem Klirren.
Frauen kreischten. Männerstimmen riefen nach Polizei und Ruhe. Das konnte kein Spiel sein.
12.
»Wer war die Frau?«, fragte Malbek Jette, die Fotos von den Scherben und den entsetzten Gesichtern machte.
»Manuela Bönig«, rief ihm Jette über ihre Schulter zu und sah wieder auf das Display ihrer Kamera.
Malbek machte Lüthje, der am Büfett stand, ein Zeichen. Sie trafen sich im Wohnmobil. Lüthje ließ sich telefonisch von der Polizeistation in Westerland den Wohnsitz von Manuela Bönig geben und forderte Notarzt, Rettungswagen und
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