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Totenschleuse

Totenschleuse

Titel: Totenschleuse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dietmar Lykk
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banal. Einer von vielen Anlässen zu erbittertem Streit. Es war das Einzige, was ihn mit seinem Vater verbunden hatte, aber auch darüber hatten sie nie geredet und sich stattdessen den zahlreichen, viel ergiebigeren Meinungsverschiedenheiten gewidmet.
    »Immortal Bach« war eine Komposition des Norwegers Knut Nystedt, nach einem Lied von Johann Sebastian Bach. Die erste Zeile des Liedes lautete: »Komm, süßer Tod! Komm, sel’ge Ruh! Komm, führe mich in Friede.« Dieser Satz wurde zunächst traditionell gesungen, so wie man es sich bei einem Bach singenden Chor vorstellte. Danach wurde jeder Buchstabe, Vokal und Konsonant, des Satzes gedehnt und in neue Harmonien gekleidet.
    Schon als Kind hatte Malbek es so empfunden, als ob eine Lupe über diesen unheimlichen Satz in einer in Geheimschrift verschlüsselten Botschaft fuhr, dabei eine weitere Geheimschrift sichtbar wurde, die in die Unendlichkeit verwies. Viel später bemerkte er, dass dieser Gedanke seine Arbeit als Ermittler beschrieb. Er versuchte, Spuren und Vernehmungsprotokolle richtig zu deuten, und fand dabei tausend Gründe, einen Menschen zu töten. Aber nicht den Grund, warum es nie aufhören würde.
    Und so wie damals als Kind und später als junger Mann, der viele depressive Phasen durchlebt hatte, ging Malbek jetzt mit langsamen Schritten im Seitenschiff einem Takt nach, den nur er bei diesem Chorwerk hören konnte, seinem Herzschlag. Er fühlte einen Moment seinen Puls und nahm den Rhythmus in seine Schritte auf.
    Hinter dem Brüggemann-Altar setzte er sich auf den kalten Boden und lehnte sich mit dem Rücken an die altersbraunen Hölzer.
    Hier war das Versteck, in dem er sich als Kind und junger Mann ausheulen, in dem er träumen und schlafen konnte.
    Nachdem er die Augen geschlossen hatte und die Stimmen des Chores ihn wie sanfte Wellen umgaben, sah er sie alle vor sich, merkwürdigerweise an den Ufern eines unbekannten Flusses. Am gegenüberliegenden Ufer sah er Manuela Bönig, Axel Molsen, Regina, Lüllmann. An seinem Ufer waren Dörte, Madamchen, Henning und Markus. Er versuchte, sich auf Markus zu konzentrieren. Malbek begriff, dass seine Passbilder in der Ermittlungsakte, die Fotos, die Madamchen ihm gezeigt hatte, dass alle Fotos etwas gemeinsam hatten, was ihm bisher nicht aufgefallen war. Ein junger Mann, der noch nicht den Glauben an Gerechtigkeit im Leben verloren hatte, der Ideale und Illusionen hatte. Es war kindliche Ahnungs- und Arglosigkeit dem Leben gegenüber, die sein Blick ausstrahlte. Und die ihn das Leben gekostet hatte.
    Als Malbek durch das Kirchenschiff zurückging, verschwanden aus den vom Chor geflochtenen Harmonien zunächst hoffende Sopranstimmen, danach ernste, aber versöhnliche Altstimmen, bis ein letzter ahnungsvoller Bariton vor den unerbittlichen Bassstimmen floh und ihnen das Ende überließ. Sie schwebten dicht über dem steinernen Boden des Kirchenschiffs und folgten Malbek, auch als er vorsichtig die Tür des Petri-Portals hinter sich geschlossen hatte.
    Malbek war weiß Gott nicht naiv, und trotzdem hatte er die Lügen des Henning Schlömer erst jetzt durchschaut.

20.
     
    Am nächsten Morgen betrachtete Malbek seine Nase ausgiebig mit der Vergrößerungsseite des Rasierspiegels. Erleichtert sah er die zunehmende Schorfbildung, und an einigen Stellen glaubte er bereits zu sehen, wie mehrere Quadratmillimeter neue Haut gewachsen waren. Keine Entzündungsherde, keine Eiterbildung. Glück gehabt. Die Reparaturfunktion seines Körpers schien den Kampf gegen die Zerstörungen erfolgreich aufgenommen zu haben.
    Er entschloss sich, nur die Heilsalbe neu aufzutragen. Das Vollkornmehl ließ er weg. Bei Tageslicht deckte die Salbe/Mehl-Mischung die Kratzer zu, ließ ihn aber ständig gegen den Impuls kämpfen, sich die Nase zu reiben, einfach weil er das Gefühl nicht loswurde, Paniermehl im Gesicht zu haben.
    Er hatte schlecht geschlafen, obwohl er einen ruhigen Parkplatz direkt hinter dem Dienstgebäude gefunden hatte. Vor dem Zubettgehen hatte er eine »Akte-X«-Folge zur Entspannung gesehen. Im Traum war er auf einem verschollenen Passagierdampfer der zwanziger Jahre im Bermudadreieck unterwegs gewesen. Auf der Flucht vor Jette, die ihn mit einer süßlich stinkenden Zigarettenspitze und Madamchens Pagenfrisur durch verräucherte Salons verfolgt und mit einer Unzahl futuristisch gestylter Handys nach ihm geworfen hatte. Da Jette durch die Zeit reisen konnte, tauchte sie immer dann vor ihm auf, wenn er glaubte,

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