Totenschleuse
sie gerade hinter sich gelassen zu haben. »Ik bin all dor«, rief sie. Es war so wie in der Fabel vom Hasen und dem schlauen Igel, der den Hasen bei Rennen überlistete. Jette als stacheliger Igel? Malbek versuchte sich daran zu erinnern, wie die Fabel ausging, aber es wollte ihm nicht einfallen. Dass er sich vor der Auseinandersetzung mit Jette drückte, war ihm bewusst, aber warum er sie als Igel aus einer Fabel sah, wollte sich ihm nicht erschließen.
Es gab Tage, an denen er außer fürs Frühstück keine Zeit zum Essen hatte, und er fürchtete, dies würde so ein Tag werden. Da half nur Malbeks Kraftbrot. Es bestand aus zwei Schwarzbroten, die auf dem Teller nebeneinandergelegt wurden. Darauf kam eine fingerdicke Lage Tomatenmark. Im Quirl bereitete er sich eine Mischung aus einer Handvoll Walnüssen, Müsli ohne Zucker, zwei Esslöffeln Magermilchjoghurt ohne alles, einem Tropfen Kürbiskernöl, einem Apfel, einem Klecks hausgemachter Kirschmarmelade und einem halben Teelöffel Limetten-Chili-Chutney. Dies musste auf das Tomatenmark verteilt werden. Darauf legte er einen Matjes, Bismarckhering oder Rollmops. Der einzige Mensch, der das Kraftbrot auch gern aß, war seine Tochter Sophie.
Heute ließ er die hausgemachte Kirschmarmelade weg, weil sie von Jette war. Er hatte noch Orangenmarmelade im Kühlschrank.
Danach ging er in die Kantinenküche.
»Können Sie das für mich einfrieren?«
Kantinenchef Tratzinger sah prüfend auf die weiße Plastiktüte, die ihm Malbek entgegenhielt.
»Wenn Sie meine Tiefkühlschränke nicht als Zwischenlager für die Gerichtsmedizin nutzen wollen …?«, sagte er zögernd mit gerunzelter Stirn.
»Fangfrischer Dorsch vom Eckernförder Kutter. Kein Straftatbestand in Sicht. Nur für ein, zwei Tage, ja?«
»Geben Sie schon her. Spätestens in sieben Monaten müssen Sie ihn aber abholen.« Er nahm die Tüte, ohne hineinzusehen.
»Okay. Aber wieso können Ihre Tiefkühlschränke nicht länger?«
»In sieben Monaten gehe ich in Rente. Ich mach vorher noch ein Abschiedsmenü.«
»Ich bin dabei, Herr Tratzinger!«
Malbek wandte sich zur Tür und blieb stehen.
»Ich werde Ihre Kochkunst vermissen. Entschuldigen Sie, ist denn überhaupt schon ein Nachfolger oder eine Nachfolgerin in Sicht?
»Nein. Man sucht noch. Es ist öffentlich ausgeschrieben. Aber bisher hat keiner angebissen.«
»Könnte sein, dass ich da jemanden habe.«
»Wen?«
»Eine Frau mit guter Ausbildung. Dabei weiß ich nicht einmal, was sie für Zeugnisse hat. Aber vielleicht haben Sie etwas anderes für sie. In ihrem gegenwärtigen Job ist sie nicht besonders glücklich. Einen Moment …« Er suchte in seiner Jackentasche. »Hier ist ihre Karte.« Er las sie das erste Mal. »Hotelfachfrau. Notieren Sie sich die Telefonnummer, die Karte brauche ich noch.«
In seinem Postfach fand Malbek einen offensichtlich privaten Brief. Der Umschlag war auberginefarben und duftete nach Regina Molsen. Er schloss sich in seinem Dienstzimmer ein.
Lieber Herr Kommissar,
es tut mir so leid! Mea culpa! Können Sie mir verzeihen? Ich möchte Sie zu einem Versöhnungsmahl im »Seeigel« in Westerland, an der Kurpromenade, einladen. Man wird uns einen Tisch reservieren.
Heute um zwanzig Uhr? Schicken Sie mir eine SMS an die Nummer am Ende des Briefes, wann Sie kommen können. Ich erwarte Sie auf dem Parkplatz.
Ihre Regina Molsen
Kein Wort von der Ladung zur Zeugenvernehmung. In der Dienstpost fand er, wie gewünscht, eine Kopie. Von gestern, also auf seinen Anruf hin, sofort von Vehrs abgeschickt. Na gut, das würde ihr erst morgen oder übermorgen zugestellt werden.
Er rief bei der Reederei Molsen an und fragte, wo sich das Schiff mit dem Auszubildenden Henning Schlömer befinde und wann es wieder in deutschen Gewässern sei.
»Herr Schlömer ist in Urlaub«, sagte die Telefondame.
»Wo? Zu Hause? Hat er was gesagt? Wie lange?«, fragte Malbek.
»Aber in einer Woche ist er wieder da.«
»Schön«, sagte Malbek und legte auf.
Malbek rief das für seine Adresse zuständige Polizeirevier an und bat, dass sie nachprüften, ob ein Henning Schlömer in seiner Wohnung wäre, wenn ja, sollten alle vorhandenen Computer beschlagnahmt werden.
Er überlegte einen Moment. Dann rief er wieder bei der Reederei an. »Ich muss sofort Kapitän Stegemann von der ›Christian Molsen‹ sprechen. Verbinden Sie mich mit ihm.«
»Das Schiff ist auf der Rückfahrt von Finnland, Zielhafen Rotterdam. Dürfen wir Sie
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