Totenstadt
und gar nicht erwartet. In den Nachrichten war zu hören, dass sein Heimatland in völligem Aufruhr war, den rechtmäßig gewählten Präsidenten Jean-Bertrand Aristide hatte das Militär vor zwei Monaten abgesetzt. Er lebte im Exil, während die fliehenden Boatpeople – die man Wirtschaftsflüchtlinge nannte – zurück nach Hause geschickt wurden, zu einer Regierung, die die Vereinigten Staaten nicht einmal anerkennen wollten. Nur ausgesprochen naive Menschen waren bereit, den Behauptungen aus Washington Glauben zu schenken, dass die fortgeschickten Haitianer zu Hause mit offenen Armen empfangen wurden.
Und Christophe wollte dorthin zurückkehren?
»Warum?« Das war alles, was sie herausbringen konnte.
»Ich bin hier nicht länger von Nutzen. Vielleicht kann ich dort noch etwas ausrichten.«
»Sie könnten dort umkommen. Wie können sie jetzt dahin zurückkehren?«
Die Art, wie er in diesem Moment lächelte, führte ihr ihre Ignoranz in dieser Angelegenheit deutlicher vor Augen, als es Worte je gekonnt hätten. »Weil ich umkommen könnte. Zu wissen, dass es wieder so ist, wo sie doch so kurz davor waren, eine eigene Regierung zu bekommen … wie kann ich da noch länger fortbleiben?«
Die St. Peter, einige Blocks weiter in Richtung Fluss als ihr Hotel, in dem sie letzten Freitag abgestiegen waren. Der Regen hatte dafür gesorgt, dass kaum noch Touristen auf den Straßen und den Bürgersteigen unterwegs waren, und Justin hielt sich zurück, während Moreno als Erster das Lokal betrat. Justin wartete noch fünf Minuten, dann verließ er sein schützendes Versteck unter einem überstehenden Dach einen halben Block weiter die Straße hinunter.
Das Creole Pot war in einem der Hinterhöfe gebaut worden, wie es sie im ganzen French Quarter gab, und man konnte es von der Straße aus kaum sehen. Die Tische reichten in der untersten Etage von Wand zu Wand, dazu kamen zwei weitere Stockwerke, in denen man auf Balkonen speisen konnte. Man hatte das Gefühl, in einem Ziegelsteinbrunnen zu stehen, mit einem Geländer aus schwerem Holz, Pflanzen, die in allen Ecken standen, und einem Plexiglasdach, durch das man einen Teil des grauen Himmels sehen konnte.
Justin setzte sich in der zweiten Etage ans Geländer und hatte Moreno in seinem Rücken. Er bestellte nichts zu essen, orderte allerdings ein Bier, als er eine der hiesigen Marken auf der Speisekarte entdeckte. Diese Ironie war einfach unwiderstehlich.
Er trank immer mal wieder einen Schluck, während er wartete und dabei zusah, wie ein Paar hereinkam, das etwa in seinem und Aprils Alter war. Sie setzten sich an den Nachbartisch, schüttelten das Wasser ab und lachten über den Tag, was für ein mieses Wetter für einen Urlaubstag. So wenig Sorgen; hatte der Kellner sie absichtlich neben ihn platziert? Als ob es nicht schon schlimm genug war, in diesen melancholischen Stunden hier zu sitzen, in denen man sich wie ein Betrüger fühlte und sich jede Ambition als bloße leere Farce herausstellte.
Als Andrew Jackson Mullavey zu ihm stieß – zehn Minuten zu spät –, da schien es die perfekte Krönung dieses Nachmittags zu sein.
»Haben Sie herausgefunden, was eine gute Fee ist?«
Mullavey nickte, und seine Wangen röteten sich. »Soweit ich weiß, bedeutet es, dass Sie hier einen Schützen versteckt haben. Sollte Ihnen irgendetwas zustoßen, dann kriege ich ebenfalls eine Kugel ab.« Er sah sich auf der unteren Ebene um, dann blickte er nach oben. Moreno würde sich nie im Leben verraten, und Mullavey hätte ihn nur durch reines Glück erkennen können. »Man hat mir gesagt, dass es sich um einen militärischen Spionagebegriff handelt. Was für Freunde haben Sie in der Zwischenzeit gefunden, Mr Gray?«
»Sauberere als die, die Sie haben.« Justin drehte seine Flasche am Hals herum, damit Mullavey das Etikett sehen konnte, eine dunkelblaue Darstellung eines mitternächtlichen Sumpfes. Dixie’s Blackened Voodoo. »Ich dachte, Sie würden das zu schätzen wissen. Erinnert Sie das an irgendetwas?«
Justin beobachtete ihn, während er seine Gedanken sammelte und sich nur durch ein leicht irritiertes Muskelzucken verriet. Er hasste den Mann dafür, für dieses ausgeklügelte Verteidigungsnetzwerk seines Elfenbeinturms.
Der Kellner kehrte zusammen mit einem Mann, dessen Hände zuckten und der ein eilfertiges Lächeln aufgesetzt hatte, zurück. »Mr Mullavey, das ist eine Ehre«, setzte er an, und Justin ließ seine Stirn, hinter der es wieder zu pochen begonnen
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