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Totenstadt

Totenstadt

Titel: Totenstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian Hodge
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besaß nur noch eine Hüfte.
    Wo einst eine Tasche war, befand sich nun ein Krater. Er zappelte im feuchten Gras. Sollte es hier enden? Der Himmel über ihm, jenseits des harten Lichts der Lampen, wann waren die Sterne herausgekommen? Er schnappte nach Luft und suchte nach Zeichen, versteckten Pfaden … hatte ihm Macandal einen Weg nach Hause gezeigt? Aber er fand nichts.
    Alles, was mit der Zeit kam, war das auf ihn hinunterstarrende Gesicht von Andrew Jackson Mullavey. Napolean suchte die Metallgabel, aber sie war fort, und was hätte sie ihm auch gegen das Gewehr genutzt, das über Mr Andrews Schulter hing? Mullavey hockte sich mit halb geöffnetem Mund hin, und auf seinem Kinn war ein feuchter Film zu erkennen. Er sah Napolean mit demselben Staunen an, mit dem ein heranwachsender Jüngling auf das erste von ihm erlegte Wildtier herabsah.
    »Danke«, sagte er sanft und wischte sich über die Lippen.
    Napolean glitt durch mehrere Bewusstseinsebenen und versuchte, sich gegen Mr Andrew aufzulehnen, aber er konnte es nicht: Der Mann knüpfte ein Seil um seine Handgelenke. Dann ging er zurück zum Haus, und während Napolean zuerst nur das leise Geräusch seiner Füße auf dem Gras hörte, spannte sich das Seil, und er wurde über den Boden gezogen. Jeder Vorsprung und jede Unebenheit machte sich schmerzhaft in seiner zerstörten Hüfte bemerkbar, und nun konnte er den Schmerz endlich spüren.
    Dann hielten sie an, sein Gesicht drückte sich ins Gras, und sein Körper bestand nun nur noch aus Knochen und Leid, dann wurden seine Arme erneut gezogen, dieses Mal allerdings in die Höhe. Sein Kopf fiel in den Nacken, und er konnte sehen, wie das Seil über einen Eichenast gewickelt wurde; und als Mr Andrew es verzurrte – es schien eine Ewigkeit zu dauern, da er nur mit einer Hand und einem Ellenbogen arbeiten konnte –, hing Napolean so hoch, dass seine Füße kaum noch den Boden berührten.
    Er verlor sein Zeitgefühl, irgendwo zwischen den Sternen und dem unglücklichen Heulen einer Eule. Da waren nur Ruhe und Taubheit und ein warmes Gefühl an den Beinen, während seine Gedanken nach Miami wanderten, zu Straßen, die er sich nur vorstellen konnte, und zu Gesichtern, die er niemals vergessen würde.
    Er spürte ein Ziehen und hörte, wie Stoff zerriss, da wurde ihm klar, dass es sein eigenes Hemd war, das ihm vom Rücken gezerrt wurde.
    Mr Andrew kam nach vorn, um ihm in die Augen zu sehen. Hatte er seinem Bruder jemals zuvor so ähnlich gesehen? Er rammte ein Stück Wurzel unter Napoleans Kinn und zwang ihn, seinen Kopf zu heben.
    »Erzähl mir eins«, sagte er. »Erzähl mir, was ich dir je angetan habe, um so eine Behandlung zu verdienen.«
    Wäre er trotzig gewesen, dann hätte er dem Mann ins Gesicht gespuckt, ein weiser Mann hingegen hätte alles mit wenigen Worten zusammenfassen können, und ein starker hätte sich vom Seil befreit und es als Schlinge benutzt. Aber in diesem Moment war er nichts von all dem, und eloquent war allein die Art, in der er litt.
    Mr Andrew ließ sein Kinn wieder los und trat einen Schritt zurück, er zeigte ihm seine Peitsche aus dunklem Leder, die bis zum Boden reichte. Dann spannte er seine gesunde Hand um deren Griff.
    »Diese Peitsche ist seit Generationen in meiner Familie.« Mullaveys Stimme klang kühl. »Ich öle sie einmal im Monat. Und ich versuche mir vorzustellen, wie mein Urururgroßvater sie benutzt hat. Du hast sein Bild an meiner Wand gesehen und weißt, was er für Augen hatte. Das ist gutes Leder, es hält ewig, wenn man es gut pflegt. In dieser Hinsicht gleicht sie einer Freundschaft.« Er hielt sie sich an die Nase und schloss genießerisch die Augen, als er ihren Duft einatmete. Dreieinhalb Meter Bullenpeitsche, innen mit Blei beschwert. So eine Peitsche in den Händen eines Mannes, der damit umgehen kann … »Nun, angeblich kann man damit sogar Holz hacken.«
    Mr Andrew begann, wieder hinter ihn zu gehen, und er ließ die Peitsche auf dem Boden schleifen wie eine gehorsame Schlange.
    »So heißt es jedenfalls.«
    Napolean sah in den Himmel und erkannte in der Ferne Gesichter, die auf Höhe der Bäume standen. Ein Funke der Hoffnung begann zu glühen … aber sie bewegten sich nicht. Jene, die nicht mehr zu seinen Leuten gehörten, die von den Zuckerrohrfeldern, angezogen vom … Schuss? Sie standen verschreckt im offenen Tor.
    Er begann zu beten, vielleicht hätten die Loa Erbarmen mit ihm und würden seine Tränen als beste Opfergabe, die er zu geben hatte,

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