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Totenstadt

Totenstadt

Titel: Totenstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian Hodge
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annehmen und ihn in ein Reich jenseits der Schmerzen bringen, als der Klang des Leders durch die Luft hallte …
    Und näher kam …
    Er bekam keine Antwort.
     
    Christophe war sich nicht sicher, wann ihn das Gefühl überkam, nach Napolean und Bertin sehen zu müssen. Er wusste nur, dass ein Augenblick kam, in dem zu viel Zeit vergangen war, viel zu viel.
    Er guckte durch den Bus und spürte kaum mehr als die Überschwänglichkeit der anderen. Zuerst hatten sie in fast andächtiger Furcht den Bus bestiegen und sich schweigend gesetzt. Doch schon bald begannen die Unterhaltungen, laute Geräusche breiteten sich in einer Art Kettenreaktion aus, und Gelächter mischte sich darunter. Wenn es eins gab, was ansteckend war, dann die Freude.
    Die Fenster des Busses waren geschlossen, um die Kühle der Nacht auszusperren, und der Bus hallte wieder von all den Stimmen; da war es leicht, das Zeitgefühl zu verlieren und zu vergessen, dass man die Risiken noch nicht hinter sich gelassen hatte.
    Christophe öffnete die Tür und ging hinaus. Er lauschte in die Nacht, die gewaltige Stille hier auf dem Land mit ihren Myriaden von Komponenten. Hinter ihm war ein solcher Lärm, dass er Napolean und Bertin nicht mal gehört hätte, wenn sie auf den Bus zugerannt wären.
    Zu lange, es dauerte viel zu lange.
    Er ging wieder hinein und bat um Aufmerksamkeit.
    »Ich sollte nachsehen, warum das so lange dauert«, sagte er. »Aber ich könnte Hilfe gebrauchen, damit ich mich hier nicht verlaufe.«
    Eine junge Frau meldete sich freiwillig; sie war robust gebaut, besaß breite Hüften und ein Lächeln, das sehr warm gewesen wäre, wenn es nicht so gezwungen gewirkt hätte. Sie sagte, ihr Name sei Tulia, und sie verließen den Bus, nachdem er eine Taschenlampe aus dem Werkzeugkasten geholt hatte. Sie sprachen nicht viel, und er gab sich damit zufrieden, hinter ihr herzutrotten, während sie ihm den Weg zeigte.
    Er hatte des Nachts schon immer besser nachdenken können als tagsüber, und er ließ seine Gedanken schweifen. Justin, April … ihm lag wahrscheinlich ebenso viel an ihrem Wohlergehen in den kommenden Tagen wie Justin an dem der Haitianer. Er machte dieses Paar nicht für den andauernden Misserfolg nach dem Tod von Carrefour Imports verantwortlich; er sah sie einfach als Glücksboten an. Mit Ausnahme von Ruben Moreno hatte noch niemand jemals so viel für ihn riskiert.
    »Sagen Sie mir Bescheid«, hatte Justin vor ihrem Aufbruch in Mama Charitys Haus an diesem Abend gesagt. »Rufen Sie in einigen Tagen an, wenn Sie dort sind. Ich muss es wissen.« Seine Augen starrten ihn an – die Augen eines Totengräbers. Er hatte sie beide umarmt, Christophe und Napolean, und war dann wortlos nach oben gegangen, um seine Wache wieder aufzunehmen.
    Ein Versprechen, das Christophe halten wollte.
    Er gelangte mit Tulia zu dem Wall, der Twin Oaks umgab, nachdem sie das Glühen der Lichter schon eine ganze Weile sehen konnten. Er berührte ihren Ellenbogen.
    »Bleib hier«, flüsterte er. »Wenn mir etwas zustößt, dann gehst du zurück und sagst den anderen, dass sie nicht länger warten müssen. Und bete, dass einer von ihnen den Bus fahren kann.«
    Dann ging er allein weiter, bis er zur Mauer kam, an der er einige Zeit entlangging und dann anhielt. Er stellte sich auf die Zehenspitzen, um hinüberzusehen, und hielt sich mit den Fingern fest, bis diese zu schmerzen begannen, auch wenn er es kaum bemerkte.
    Ein junger Mann hing an den Handgelenken in der Mitte zwischen dem Haus und der Mauer. Er hatte schwarze Haut, trug eine blaue Hose und war überall mit roten Streifen gezeichnet, die in dem künstlichen Licht glänzten. Entfernung und Unklarheit bedeuteten gar nichts – Christophe wusste es.
    Aber Napolean war nicht allein; eine Gruppe hatte sich um ihn versammelt und holte ihn mit lethargischer Entschlossenheit herunter. Er konnte nur vermuten, dass dies die Haitianer waren, die sich nach und nach von den anderen entfremdet hatten; jene, die auf den Zuckerrohrfeldern arbeiten mussten, nur einen kurzen Fußweg und doch eine halbe Weltreise entfernt.
    Von Mullavey war nichts zu sehen … es sei denn, es war seine Silhouette in dem großen Haus, die bewegungslos an einem Fenster stand und von hinten beleuchtet wurde. Als habe sie die Aufsicht über alles, wie ein selbst ernannter Gott.
    Christophe ließ sich wieder zu Boden fallen und folgte dem Weg, er kam an Bäumen vorbei, die so groß geworden waren, dass sie die Mauer mit ihren Wurzeln von

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