Totenstadt
unten heraus verbogen.
Endlich gelangte er zu einem offenen Tor, an dem sich ein kleiner Pulk aus Haitianern versammelt hatte. Mehr als einer sah aus, als sei er plötzlich aus dem Tiefschlaf gerissen worden. Mit zerlumpten Kleidern und abgetragenen Schuhen standen sie dort, sahen ihn an und errichteten so eine neue Mauer aus Argwohn.
Er blieb auf Distanz, und nach einiger Zeit wurde Napoleans Körper durch das Tor getragen. Es gab keinen Grund, noch nach dem Puls zu suchen oder nach Atemzügen zu lauschen, nicht bei einem Körper, der so zerschmettert war, dass die Rippen durch die aufgeplatzte Haut zu sehen waren. Wo war dieser göttliche Rebell jetzt?
Die Haitianer sprachen weder mit ihm noch miteinander, sie gingen einfach der Pflicht nach, zu der sie verdammt waren. Christophe sah zu, wie sie ihn zum Fluss trugen, zuerst sah er sie nicht mehr, dann waren sie auch nicht mehr zu hören …
Alle bis auf einen Mann, der so viele Falten und eine so dunkle Haut besaß, dass sie beinahe blau wirkte. Er war hager, und seine Arme und Beine wirkten wie Stöcke. Seine Augen waren umwölkt, und er hatte kaum noch Zähne im Mund. Er sah aus wie ein uraltes Kind.
»Kommst du vom Haus?«, fragte der alte Mann in dem kreolischen Dialekt, den Christophe schon seit Jahren nicht mehr gesprochen hatte. »Ich erinnere mich nicht …«
»Nein«, antwortete er in derselben Sprache. Und obwohl er gehofft hatte, die Tränen zurückhalten zu können, spürte er das erste salzige Brennen, und er ließ ihnen ihren Lauf. »Was wird mit dem Jungen geschehen?«
»Der Fluss bekommt ihn.« Der alte Mann lächelte, dass schwarze Zahnstummel zu Tage traten, dann kratzte er sich in seiner weißen Haarpracht. »Der Fluss hat mit den Jahren viele Knochen verschluckt.«
Christophe taumelte, als er nickte, dann zeigte er auf die Mauer, durch die Mauer, die sie vom Haus abschirmte. »Warum lasst ihr zu, dass er ihm so etwas antut? Er ist ein Mann, er ist bloß ein Mann.«
Die uralten Augen blickten ihn sanfter und voller Mitleid an, als sei er nur ein Einfaltspinsel. »Nein, nein, da irrst du dich«, erwiderte er und hob zwei Finger. »Er ist zwei. «
Augenblicke später gingen die Außenlichter aus, und sie standen in völliger Dunkelheit. Der alte Mann, der nun nichts weiter als eine vage Gestalt war, drehte sich um und ging durch die Bäume davon.
Und als Christophe ihn nicht länger hören konnte, tat er dasselbe – allerdings ging er in die entgegengesetzte Richtung.
32
W ELT OHNE E NDE , A MEN
Und am dritten Tag soll sie sich erheben.
Komm zurück, ich will dich zurück. Komm zu uns, zu dir.
Samstag bei Sonnenaufgang begann Justin zu verstehen, was Esoteriker zu einem asketischen Rückzug bewog, bei dem sie sich von allem abschotteten und nur auf ihr Innerstes hörten. Der Grad zwischen Wahnsinn und Erleuchtung war nur sehr schmal.
Seine Leere war nur noch auf wenige Stunden beschränkt, und er war gleichermaßen von Freude und Furcht erfüllt. Die Lunte brannte, die Frage war nur, ob dann ein Feuerwerk oder eine Bombe hochgehen würde.
Als er hörte, dass Mama Charity in der Küche rumorte, ging er nach unten. Auf halbem Weg die Treppe hinunter roch er an seinem Hemd, das unter den Achseln ziemlich stank. Schon bald würde er diese Kleidung in Brand stecken, so wie alles andere, das ihn so eng mit der vergangenen Woche verband, und ein befreiendes Feuer entzünden.
Mama Charity stand am Küchentresen und bereitete die Kaffeemaschine auf ihre morgendliche Aufgabe vor. »Kaffee für zwei?«, fragte sie und wartete dann gar nicht erst auf seine Antwort: »Ja.«
Er musste grinsen, auch wenn sich seine Lippen nur unwillig verzogen. Sie hatte ihn gar nicht mal schlecht imitiert, sogar den finsteren Klang, den seine Stimme neuerdings hatte.
»Ich dachte, Sie wären ein wachsamer Typ, aber da habe ich mich wohl geirrt«, sagte sie.
»Wie meinen Sie das?«
»Jemand hat sich offenbar heute Nacht an Sie rangeschlichen und Ihre Augen rot gefärbt.« Sie lächelte, stieß ihn mit spitzem Ellenbogen an und setzte die Kaffeemaschine in Gang. »Haben Sie letzte Nacht überhaupt etwas gegessen, Justin?«
»Ich habe es versucht, nachdem Sie zu Bett gegangen waren, aber … Ich … Ich konnte nichts bei mir behalten. Mein Magen will wohl in Ruhe gelassen werden, schätze ich.«
»Ich habe Ihnen doch gesagt, dass Sie das Essen nicht bezahlen müssen. Wissen Sie überhaupt, wie selten mir so etwas über die Lippen kommt? Sie könnten
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