Totenstadt
ein Arbeitszimmer, in dem sich die Porträts der Patriarchen aneinanderreihten, hier ist Ururgroßvater Jebediah Mullavey, er hat im Krieg Munition den Fluss hinaufgeschmuggelt.
Die wellige Flussniederung glättete sich, als die Limousine in eine Allee aus Bäumen glitt, die dicht an dicht am Straßenrand standen. Ihre Äste hatten schon längst die ihrer Brüder auf der anderen Straßenseite erreicht, und das, was einst ein Blätterdach gewesen sein könnte, war nun fast so etwas wie ein großer Tunnel aus Dunkelgrün, Braun und Grau. Das Tageslicht glich einem Eindringling. Da oben hätte man eine Leiche verstecken können, die in den verzweigten Büscheln aus Lousianamoos verrottet wäre, und niemand hätte je etwas gemerkt.
Der Tunnel endete, und die Allee war nichts als ein Vorgeschmack gewesen. Zwischen dem Ende der Auffahrt und dem Haus wurde der Blick von zwei weiteren Bäumen flankiert. Sie waren dick und gigantisch, sie überragten die anderen bei Weitem … große britische Eichen, deren sich ausbreitende Wurzeln im Boden verankert waren, als wären sie Götter, deren Anblick zu schrecklich war, als dass man ihn auf einmal ertragen konnte.
»Willkommen in Twin Oaks«, rief Napolean über seine Schulter hinweg.
Justin umklammerte sein Glas und starrte hinaus. Hätte er einen solchen Baum – geschweige denn zwei – als Kind erblickt, nachdem er beispielsweise Das zauberhafte Land gesehen hatte, so wäre er auf der Stelle tot umgefallen.
Und dann war da das Haus.
Als Napolean auf dem mit Ziegelsteinen gepflasterten Hof links davon anhielt und sie aus der Limousine ausstiegen, kamen sie sich neben dem aus zwei überhohen Stockwerken bestehenden Haus mit seinem griechischen Prunk wie Zwerge vor. Der Säulenvorbau war in reinem Weiß gehalten, rosenumrankte Eisengeländer führten unter der Dachrinne zu den Simsen, und das Dach und die Fensterläden erstrahlten in Schwarz. Sechs weiße korinthische Säulen standen aufgereiht an der Front und stützten ein verziertes dreieckiges Tympanum. Das Gras, von dem sich dieser Palast erhob, sah so grün und glatt aus wie ein Billardtisch.
»Sieht nicht so aus, als würde es ihm schlecht gehen, was?«, meinte Leonard. »Warum haben wir den ersten Spot nicht gleich hier gedreht?«
Napolean ging voraus und den Weg entlang; er gelangte vor ihnen zur Tür und trat hinein in die große Halle. Sie musste wenigstens achtzehn Meter lang sein, und alle sechs Meter hing ein bronzener Kronleuchter mit Glaskuppel, ferner waren Bogenportale und im hinteren Teil eine Treppe zu sehen. Jede Tür umgab ein geschnitzter weißer Rahmen, und sie sah aus, als wäre sie aus Mahagoni. Der Rand der Decke war mit Stuck verziert und an den blassolivfarbenen Wänden hingen Kunstwerke, die eine weitaus vornehmere Zeit wiedergaben.
»Orvela! Yo!«, rief Napolean. »Die Wochenendgäste, ich habe sie mitgebracht!«
Dieser Kerl ließ sich von seiner Umgebung überhaupt nicht beeindrucken; man musste ihn einfach mögen. Sein Ruf wurde nicht erwidert.
»Entspannt euch einen Augenblick, setzt euch, und ich suche Orvela. Sie kann euch zeigen, wo ihr schlafen werdet.« Er zog sich die Kappe vom Kopf, schritt durch die Halle und verschwand dann hinter einer Tür.
Hinsetzen? Das Einzige, was einer Sitzgelegenheit ähnelte, war eine schmale Bank aus Walnussholz, die an einer Wand stand. Justin zeigte fragend darauf. Leonard zuckte mit den Achseln; er schwitzte ziemlich stark.
»Ich habe das Gefühl, als befände ich mich in einer Ausstellung im Smithsonian«, murmelte Justin.
Leonard wischte sich mit einem Taschentuch das Gesicht. »Wir sollten lieber stehen bleiben.«
Einen Augenblick später kehrte Napolean in Begleitung einer farbigen Frau von etwa fünfzig Jahren zurück. Sie war klein, hielt sich ausgesprochen gerade, und ihr dunkles Haar war von zahlreichen grauen Fäden durchzogen. Sie trug ein kleines Tablett mit zwei Gläsern.
»Willkommen in Twin Oaks«, sagte sie mit einem Akzent, der sich leicht von Napoleans unterschied. »Ich bin Orvela LaBonté, und mir unterstehen die Dienstboten hier …«
Sie war schon fast bei ihnen, als sie stolperte. Das Tablett, das sie trug, drohte zu einer Katastrophe zu werden. Die beiden hohen Gläser gerieten aus dem Gleichgewicht und erwischten Leonard mit einer vollen Breitseite. Eine helle, teebraune Kaskade durchnässte ihn von der Brust bis zur Taille, und was nicht direkt vom Stoff aufgesogen wurde, sickerte in seine Schuhe. Feste Bestandteile
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