Totenstadt
er sah aus wie ein Kind auf einem Dinerstuhl.
Das Leben unter Nathan Forrest hielt ihn in Bewegung, aber er sollte sich ab und zu auch mal Zeit für sich selbst nehmen. Ein Boot mieten und so weit rausfahren, dass kein Land mehr zu sehen war, und dann noch immer weiter. Zum Teufel mit der Sportfischerei, er sah darin keinen Sinn, such dir einfach einen Fleck aus, schalte den Motor ab und lass dich einige Stunden treiben. Nacht, es musste Nacht sein, eine wolkenlose Nacht mit einem riesigen, aufgequollenen Mond.
So wie jetzt.
Es half, die Dinge im richtigen Licht zu sehen. So konnte man erkennen, wie klein man eigentlich war. Du und das Boot, nichts als kleine Flecken auf einer geformten Ebene aus Schwarz und Silber, dem schimmernden Meer bei Nacht. Der tiefste und ewigste Abgrund unter dir, das Einzige, was dich davon abhält, hineinzufallen und bis auf den Grund zu tauchen, ist die Wertarbeit eines fremden Handwerkers. Und die Gunst der Götter, die deine Zukunft mit klaffenden Löchern bereichern konnten, wenn man ihnen ernsthaft in die Quere kam.
Der Schiffer kam aus der Kabine und sagte, er habe soeben einen Funkspruch empfangen. Ihr Paket würde in einigen Minuten ankommen.
Schon bald drang das Dröhnen eines Motors aus dem Südosten. Ein dunkler Fleck in der Ferne. Einige Signallampen blitzten auf, und das eintreffende Boot drehte längsseits bei. Die Hüllen schlugen leise gegeneinander und wurden so lange festgehalten, wie ein Passagier brauchte, um von einem Boot auf das andere zu wechseln. Und dann war da noch sein Gepäck. Dreister Bastard, reiste er wirklich mit vier Koffern? Die Deckarbeiter hievten sie nacheinander hinüber zu Aals Männern, die sie in die Kabine verfrachteten.
Der ganze Transfer geschah völlig wortlos, dann wendete das Lieferboot und ließ nur eine Welle zurück, während es sich auf seine lange, lange Rückreise zu den Cayman-Inseln machte.
»Bringen Sie mich aus dieser Kälte«, sagte der Ankömmling, und Aal führte ihn in die Kabine. Der Mann platzierte seinen massigen Körper auf einen der gepolsterten Sitze und blies sich warme Luft in eine Hand. Erst in diesem Moment nahm er Aal richtig zur Kenntnis. »Sie sehen gut aus. Liegt es an dem Licht … oder sind Sie nicht gealtert, seitdem wir uns das letzte Mal gesehen haben?«
Aal lächelte schmallippig. »Ich lebe gesund.«
Wie lange war es her? Etwa sieben Jahre, schätzte er. Er hatte Luissant Faconde zuletzt in seinem Heimatland gesehen, in Haiti. Zu jener Zeit war der Mann reich und mächtig gewesen. Nun war er nur noch reich. Und sehr gefährlich, vermutete Aal.
Faconde war kein großer Mann, er war vielleicht einen Meter zweiundsiebzig groß. Er gehörte zu diesen hellhäutigen Mulatten, die in der haitianischen High Society von Port-au-Prince bevorzugt wurden, die sich selbst als überlegen gegenüber ihren dunkelhäutigeren Landsleuten aus den Slums und den ländlichen Gebieten ansahen. Damals wie heute war er gut genährt, er hatte einen erstaunlichen Bauch, schwere, runde Schultern und Oberschenkel wie Sandsäcke. Über all dem thronte ein rundes Gesicht und ein sogar noch runderer Kopf mit einer Drahtgestellbrille. Er sah aus wie ein gefallener Engel.
Aber das Bemerkenswerteste an ihm war, dass ihm der linke Arm fehlte. Dort war nur ein Stumpf, der auf halber Strecke zwischen Schulter und Ellbogen endete. Sein Jackett war speziell für ihn angefertigt worden: Der Ärmel war abgeschnitten und mit einer einzigen Falte zugenäht worden.
Aal machte eine Geste in Richtung des fehlenden Arms. »Sie haben ihn nie ersetzt. Ich dachte, ich hatte angenommen, dass Sie genug Geld dafür besitzen.«
Luissant Faconde runzelte die Stirn und tat diesen Gedanken verächtlich ab. Seine dicken Backen wurden noch praller. »Ich will kein Plastik, keine neumodischen Geräte aus Metall an meinem Körper angebaut haben. Ich will das ehrenvoll tragen.«
Aal nickte. Ehre über Eitelkeit; lobenswert, wenngleich funktional völlig blödsinnig.
Faconde war nun zum zweiten Mal seit Februar 1986 in der westlichen Hemisphäre. Er hatte Monaco zu Wochenbeginn verlassen und drei Tage in einem Hotel auf den Cayman-Inseln verbracht. Charterboote wurden auf beiden Seiten organisiert, und hier war er: Wechselte mitten im Golf die Seiten wie bei einer Kokainverschiebung, und schon war er auf dem Weg nach New Orleans. Die Heimlichtuerei war ziemlich extrem, aber Faconde wollte verhindern, das jemand von seinem Überqueren der amerikanischen
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