Totenstadt
umgehen, selbst wenn es einer Katastrophe glich. Haitianer waren von Natur aus fatalistisch. Diese winzige Insel war von sechs Millionen Stoikern bevölkert, von denen die meisten in eine Armut geboren wurden, der sie nicht einmal im Traum entfliehen konnten. Das gelang nur wenigen, und noch eine weitaus geringere Anzahl gelangte zu Reichtum … aber keiner konnte die Hoffnungslosigkeit des Landes loswerden, zumindest nicht vollständig. Er würde überleben, er würde immer überleben.
Aber das hielt ihn jetzt nicht davon ab, dass er unbedingt wissen musste, warum dieser Mann, den er Jahre zuvor eingestellt hatte – ein Landsmann natürlich und bis vor Kurzem ein mustergültiger Arbeiter –, das getan hatte.
Virgil Bean hatte ihn auf dem Weg hierher über alles informiert, was er in den Telefonkonferenzen mit der Polizei und dem Bezirksstaatsanwalt erfahren hatte. Es schien zwar alles zu passen, aber es ergab keinen Sinn.
Dorcilus Fonterelle war an diesem Morgen auf der Canal Street verhaftet worden, einer breiten Durchgangsstraße, die mitten durch die Stadt führte und an der es haufenweise Geschäfte für alkoholische Getränke und preiswerte Kameras gab und sich die unterschiedlichsten Händler aneinanderreihten. Dorcilus war in eine Pfandleihe gegangen und hatte versucht, eine Smaragdhalskette, die mehrere Tausend Dollar wert war, zu versetzen. Ein schlecht gekleideter, taumelnder Schwarzer, der schon länger nicht mehr gebadet hatte … der weiße angloamerikanische Besitzer hatte sofort Verdacht geschöpft, besonders da ein Überfall vor zwei Monaten, der einige Blocks entfernt stattgefunden hatte, noch immer ungeklärt war. Die Polizisten waren aus der Vieux-Carré-Station gekommen und hatten Fonterelle mitgenommen, der sich noch immer in dem Geschäft befand und keinen Widerstand leistete.
Es stellte sich heraus, dass die Halskette bei dem Raub am 13. August bei LJ Jewelers gestohlen worden war. Als man ihm ein Foto zeigte, identifizierte der ältere Jablonski Fonterelle, der in der Zeit des Raubes mehrere Male vom Gelände geworfen worden war. Sie hatten ihn für einen Obdachlosen gehalten. Bei einer rasch durchgeführten Durchsuchung von Fonterelles Apartment kamen die meisten gestohlenen Waren wieder zutage, die in einem Kopfkissenbezug im Schrank aufbewahrt worden waren.
Aber man hatte zwei und zwei zusammengezählt, und das sogar schon, bevor das Apartment durchsucht worden war. Bei einer Überprüfung des seltsamen Juwelendiebs fand man auch heraus, wo er arbeitete: bei Carrefour Imports, die selbst bis zum Hals im Morast steckten. Ein Detective des Raubdezernats konnte rasch ausschließen, dass es sich um Zufall handelte, da bei dem Raub am 13. August nicht nur Juwelen, sondern auch eine kleine Menge Zyanidkügelchen gestohlen worden war.
Bean hatte ihm erklärt – was für beide eigentlich nicht neu war –, dass Juweliere Zyanid zuweilen in fester Form als Reinigungsmittel verwendeten.
Plötzlich sah es ganz danach aus, als ob der neueste Produktvergiftungsskandal das Werk eines Insiders gewesen sei. Die Kaffeepads waren schon tödlich gewesen, bevor sie die Fabrik überhaupt verlassen hatten.
Christophe Granvier musste wissen, warum, er musste dem Mann ins Gesicht sehen, der fünf Unschuldige getötet und ihn in den finanziellen Ruin getrieben hatte. Und ihm ohne Hass, ohne Zorn und ohne Tränen einfach in die Augen sehen und ihn nach dem Warum fragen.
Im NOPD-Hauptquartier wimmelte es von Polizisten und verhafteten Delinquenten. Da waren Betrunkene, die über die Maßen gefeiert hatten, Prostituierte und Taschendiebe, Straßenräuber und andere Kleinkriminelle. Als angenehmer Kontrast zu den restlichen Anwesenden zogen Bean und Christophe die Aufmerksamkeit des Diensthabenden schnell auf sich. Der Anwalt sprach, und sie hatten die Erlaubnis, dass Christophe Granvier seinen ehemaligen Angestellten einige Minuten lang besuchen durfte. Nein, nein, ich verteidige ihn nicht, sehe ich aus wie ein Pflichtverteidiger?
Zwei Türen und einen Gang weiter stießen sie auf einen uniformierten Offizier, der sie zu einem kleinen fensterlosen Raum brachte. Christophe trat ein und sagte Bean, dass er es vorziehen würde, wenn der Anwalt im Gang warten könnte. Hier ging es nicht ums Gesetz und auch nicht ums Geschäft, hier standen nichts als Ehre und die Wahrheit auf dem Spiel. Schön, schön, antwortete Bean; diese kleinen Zimmer wären seiner Klaustrophobie sowieso nicht zuträglich. Die waren nur
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