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Totenstadt

Totenstadt

Titel: Totenstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian Hodge
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ganz anderes mürbe. Er hatte so etwas schon erlebt …
    Der Mann des zwanzigsten Jahrhunderts, der Rationalist … diese Schichten von Christophes Leben hatten ihm in seinem neuen Heimatland gut gedient. Er hatte Erfolg gehabt. Aber sie hatten auch einen Schleier über die Vergangenheit gelegt, über die Dinge, über die man in seiner Heimat nur im Dunkeln oder dem Schutz der Schatten flüsternd sprach. Er war schon seit zu langer Zeit fort aus Haiti. Lange genug, um zu vergessen.
    Nun gut. Er sah in das Gesicht des Mannes, der das Instrument seines Ruins gewesen war. Er fand eine Wahrheit, und falls ihm der Rest bei seinem Besuch entgangen war, dann war es vielleicht besser, wenn er ihn erst gar nicht kannte. Jemand hatte diesem Mann, diese Kreatur, gegen ihn eingesetzt. Das war mehr, als er wissen wollte.
    Er musste sich nicht länger in seiner Gegenwart aufhalten.
    Christophe erhob sich und ließ Dorcilus leise weinend auf seinem Stuhl zurück. »Danke.« Er nickte dem Cop zu, der zurücknickte und aufstand, um den Beschuldigten wieder abzuführen. Ihn zurück in seine Zelle zu bringen.
    Virgil Bean schloss sich ihm an, als er auf seinem Weg zur Tür durch die Halle kam. Er beugte sich mit seinen langen, verkniffenen Gesichtszügen zu ihm wie ein Verschwörer.
    »Ich habe eben gehört, dass sie ihn von einem vor Gericht zugelassenen Psychiater untersuchen lassen wollen. Sie rechnen nicht damit, dass er ihn für zurechnungsfähig erklärt.«
    »Das ist er nicht«, erwiderte Christophe. »Und er wird es auch niemals mehr sein.«
    Dass sich dieser Bannfluch, diese Unmenschlichkeit und diese Terrortaktiken über die Grenzen Haitis hinaus ausgebreitet hatten! Sie waren ihm hierher gefolgt, ein Erbe aus einer älteren Welt, die ein Feind, dessen Namen er vielleicht niemals erfahren würde, an dieses neue Ufer mitgebracht hatte. Solche Dinge ließ man besser zusammen mit der Armut und der Ignoranz zurück an dem Ort, an dem die bloße Erwähnung ihrer Existenz alle Abergläubigen und weniger Erleuchteten erschaudern ließ. Solche Dinge gehörten in ein Land, in dem bei Anbruch der Nacht alle Menschen Angst hatten, in dem jeder Schrei eines Tieres ein wandernder Geist war und jeder Schatten Böses im Sinn hatte.
    Was er in diesem Raum zurückgelassen hatte, dafür hatte man bei ihm zu Hause einen Namen.
    Zombie.
     
    Spät in der Nacht hatte sich Dorcilus in Fötusposition auf seiner Pritsche in seiner Gefängniszelle zusammengerollt, die in der Nähe der zentralen Haftzelle in South White lag, während die schwachen Lampen wie viele kalte Sonnen auf ihn herniederschienen. Er schlief eigentlich nicht mehr, er lag stets wach und träumte vom Grab. Allein dort gehörte er hin, dort konnte er den Würmern zuhören, die durch die kalte Erde glitten.
    Erinnerungen an ein Leben, das er durch den Nebel aus Tod, Begräbnis und Wiederauferstehung sah: Es waren nichts als Fragmente, zerrissene Bilder, die ihm aus zittrigen Fingern fielen. Er war einst ein Mann gewesen, der das Leben liebte … er hatte seine Arbeit geliebt, seine Freizeit, seine wenigen Freunde. Er hatte sogar die Erinnerung an sein Heimatland geliebt, da all die Jahre die Erinnerung an ein Leben unter der Herrschaft der Duvaliers getrübt hatten, und er erinnerte sich an die grüne Inselnation, die wie ein lebendiges Juwel im blauen Meer dalag, an den Geschmack des Essens dort und die Hitze der Leidenschaften.
    An ein Land, in dem tote Männer wieder auferstanden.
    Der Tod war in einem wässrigen Bayou zu ihm gekommen, ich lag im Sarg, kalt, er nimmt meine Kleider, schneidet Haar, schneidet Nägel, Djab Blanc, er nimmt meine Seele, will sie behalten, ER BESITZT MICH, flüstert in mein Ohr im Sarg, ich kann mich nicht bewegen, der Deckel geht zu, oh, die Dunkelheit, das Hämmern, DIE HÄMMER schlagen Nägel, Donner in meinen Ohren, sie legen mich in die Erde, in das Loch, in das Grab, und sie riechen mich, die Würmer …
    Seitdem war das Leben nichts als eine Wiederholung gewesen, er tat nur das, was er tun durfte. Er arbeitete wie ein Roboter, er ging nach Hause und wartete, bis es Zeit war, wieder zur Arbeit zu gehen. Die Zeit hatte keine Bedeutung, Tage wurden zu Wochen, Wochen zu Monaten, für die Toten waren sie doch alle gleich. Eines Morgens gab man ihm ein paar Kügelchen, die er in einem kleinen Fläschchen in seiner Tasche herumtrug wie kleine Maiskörner, und an einem oder zwei Tagen stellte er fest, dass seine Hand sie in verschiedenen Intervallen in

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