Totenstadt
meine Dateien in Ordnung zu bringen.« Er trank noch einen Schluck der wässrigen Überreste seines Scotchs. Sein Arm entspannte sich, um sich gleich darauf wieder zu versteifen. Er zitterte, dann flog das Glas in hohem Bogen vom Tisch und zerbrach.
Der Krach, den Leonard auf einmal machte, das war das Schlimmste. Justin saß dumm und hilflos da und sah in Leonards Gesicht, während sich dessen Augen verschleierten, in einem Augenblick sehr weit weg zu sein schienen, im nächsten aber voller Rachsucht wieder da waren, ganz im Hier und Jetzt, und dieser Moment ließ ihn erschaudern.
Leonard sah aus, als versuche er zu schlucken, was aber plötzlich nicht mehr ging, seine Kehle beulte sich froschartig aus. Seine Augen weiteten sich und drangen aus ihren Höhlen hervor, er stieß ein gedämpftes Jaulen aus, das immer lauter wurde, seine Fäuste hämmerten auf den Tisch, und nun hatte er die volle Aufmerksamkeit all jener, die ihn vorher nur verstohlen beobachtet hatten. Justin wollte schon aufstehen, hinter ihn gehen und den Heimlichgriff anwenden, aber nein, das konnte nicht das Richtige sein, Leonard aß ja nicht, er hatte nicht einmal das leere Glas an den Mund geführt, warum konnte er also nicht atmen …
Leonards Lippen öffneten sich, und in einer morbiden, wahnsinnigen Verwirrung war es fast so, als wäre er ein sehr großes Kind, das am Mittagstisch saß und voller Widerwillen und Wut den letzten Bissen des verhassten Essens wieder aus dem Mund gleiten ließ. Ja. Es war eine sehr ähnliche Situation, ein großer Fetzen rohen Fleisches quoll hinter seinen Zähnen hervor und drang über seine Lippen, und das Blut drang aus den roten Spalten seiner Haut …
Alle Anwesenden, die Zeuge dieses Schauspiels wurden, schrien laut auf, und Justin war sich nicht sicher, ob sich seine Stimme nicht diesem Lärm angeschlossen hatte. Was zum Teufel war das …
Seine Zunge, SEINE ZUNGE …
Und das war es, nicht wahr, Leonards Zunge, plötzlich auf eine Größe angeschwollen, die nie für den Mund und die Kehle eines Menschen gedacht war. Sie hing ihm dick und schwer wie eine Rinderzunge im Gesicht, und sein Stuhl kippte um, sodass er unter dem dunkler werdenden Himmel von Tampa zu Boden fiel. Leonard starrte in die kalten Tiefen der Unendlichkeit, während er wie rasend um sich schlug und Justin neben ihm kniete und nichts ausrichten konnte.
Wie musste der Rest der blutenden Zunge erst sein, der Teil an der Wurzel, den er nicht sehen konnte? Die anderen neun Zehntel des Eisbergs. Justin schnappte sich von einem anderen Tisch den Suppenlöffel und hantierte damit wie ein Arzt mit seinem Holzspatel, sein Magen drehte sich, als er die dicke, schwammige Masse unter dem Metall zucken sah. Er stand auf verlorenem Posten, so viel war klar, er würde schneiden müssen, schneiden, und das konnte er unmöglich tun.
Eine Küchentischoperation in einem Straßencafe; er wäre am liebsten weggelaufen, so schnell er konnte. Hatte Leonard nicht gesagt, er würde nie zurücksehen? Das war auf jeden Fall eine Erinnerung, die er liebend gern wieder vergessen würde.
Aber Justin blieb da, mit Blut in den Handflächen und Spucke auf den Fingern, und der einzige schwache Segen dieses Abends war, dass das Ende dieser krankhaften Erstickung nicht sehr lange auf sich warten ließ.
Auch wenn es ihm wie eine Ewigkeit vorkam.
14
F ORENSIK
Viele der Menschen, denen er in den folgenden Tagen in den Gängen der Segal/Goldberg-Werbeagentur begegnete, sahen ihn nun irgendwie anders an. Justin konnte es nicht genau zuordnen, aber es glich eher einem Flüstern, mit dem in beiläufigen Unterhaltungen über die banalsten Dinge etwas angedeutet werden sollte, das ging nun jeden Tag so.
Leonard Greenwald war tot, und Justin war Zeuge seines Todes gewesen. Diese unglaubliche Direktheit wäre ihm gewiss anders vorgekommen, hätte man ihm eine tröstende Erklärung vergönnt.
Aber so war es leider nicht; Leonards Tod war abgefahren und grotesk gewesen und ließ sich keinesfalls leicht erklären. Und hier in der Agentur hatte Justin beinahe vergessen, dass er nicht normal war. Vielleicht war es echt, möglicherweise auch nur Paranoia, aber seine Abnormität schien nach mehr als einem Jahr wieder zu einem Problem zu werden. Er war trotz allem bereits erfahren im Umgang mit dem vorzeitigen Tod, und wenn sie dies zuvor nur aus zweiter Hand wussten, so wurde ihnen diese Informationen direkt unter der Nase nun erneut frisch aufgetischt.
Leonard Greenwalds
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