Totenstadt
friedlichen Erde und den in ihr Ruhenden eintrafen. Der weiße Leichenwagen fuhr den Kiesweg hinunter, und April und Justin blieben ein wenig zurück. Die Sargträger mussten noch Leonards Bronzesarg ausladen, in dem er seine Reise in die Nachwelt antreten würde.
»Als ich ein kleines Mädchen war«, sagte April leise mit ihrer Friedhofsstimme, »da starb meine Lieblingstante an Krebs. Ich war … vier vielleicht? Ich kann mich heute kaum noch an sie erinnern. Aber ich weiß noch, wie viel Angst ich hatte, daran zu denken, dass sie tot war. Ich stellte mir immer vor, wie sie in diesem kleinen, engen Loch unter der Erde saß. Sie sah hinauf zum Tageslicht und hörte all die Leute, die über ihr herumliefen … und sie wünschte, sie könne wieder hinauf und sich ihnen anschließen. So habe ich mir anfangs den Tod vorgestellt.«
Justin lächelte. Amüsiert und berührt. Zärtlich. »Wie eine Zeitstrafe, die ewig dauert.«
»Und sie würde die ganze Zeit zittern, weil sie so frieren musste.«
»Wann hast du verstanden, wie es wirklich ist?«
»Da bin ich mir nicht so sicher. Weiß ich das denn jetzt?« Die Sargträger hatten die Griffe in der Hand und begannen den letzten Gang zum Grab. Alle im Gleichschritt, eins, zwei, drei, vier. April setzte sich ebenfalls wieder in Bewegung und hielt sich dabei an Justins Arm fest. Der Boden war weich, und ihre hohen Absätze konnten gefährlich sein. »Ich weiß noch, dass mir irgendwann auffiel, wie leicht es den Menschen fällt, bei solchen Anlässen zu lachen. Solange man nicht vor dem offenen Sarg steht, kommt einem alles so viel witziger vor. Ich schätze, das liegt daran, dass alles so viel intensiver ist.«
»Man braucht das Lachen einfach dringender.«
»Mein Großvater starb, als ich in der Highschool war, wenige Tage, nachdem man mir den Blinddarm entfernt hatte. Meine Cousinen und ich kamen bei der Beerdigung ins Gespräch – über Großvater, die Streiche, die wir ihm gespielt hatten, und die Art, in der er uns glauben ließ, dass er nicht damit gerechnet habe. Ich musste so sehr lachen, dass mir die Nähte platzten und sie mich in die Notaufnahme bringen mussten.«
Er lachte, zur falschen Zeit und am falschen Ort, aber es war trotz allem ein gutes Gefühl. Er unterdrückte es, so gut er konnte. »Du kannst einem bei einer Beerdigung wirklich die Schau stehlen.«
Die letzten Worte am Grab: Der Sarg stand bereits neben dem Loch, und es gab Klappstühle für die Familie sowie einen transplantierten Garten, der nur darauf wartete, vor sich hinzuwelken. Die letzten Gebete für die Überlebenden und die Seele. Zu diesem Zeitpunkt ging immer alles ganz schnell. Fünf Minuten später waren sie schon auf dem Rückweg zum Wagen, die leise geführten Unterhaltungen in der Umgebung wurden mit jedem Schritt, den man sich vom Grab entfernte, lauter.
»Entschuldigen Sie …«
Justin fühlte eine Berührung an der Schulter und drehte sich um. Da stand ein Fremder, den er noch nie zuvor gesehen hatte. Er war von mittlerer Größe und begann, kahl zu werden, hatte aber nicht versucht, dies durch geschickt gekämmtes Haar zu verbergen. Der Anzug war von hoher Qualität, auf ihn zugeschnitten, aber die Krawatte brauchte dringend eine Reinigung. Nobody’s perfect.
»Sie haben mit Leonard zusammengearbeitet, nicht wahr? Sie waren Mittwochnacht bei ihm?«
Justin nickte und warf April einen Blick zu; er wollte sie aus dieser Sache weitestgehend raushalten. Er sagte nichts.
»Ein Familienmitglied hat mich auf Sie hingewiesen. Ich bin Arthus Dirkson. Der Familienarzt der Greenwalds.« Sie schüttelten sich die Hände; sein Griff war so ernst, glatt und kühl, er musste einfach ein Arzt sein. Dann etwas schmunzelnder: »Ich gehe nicht sehr oft zu Begräbnissen, das muss ich leider zugeben. Das ist fast so, als würde ich … mein Versagen anerkennen. Aber ich schweife ab.«
»Warum sind Sie dann heute hier?«, wollte April wissen.
»Hauptsächlich aus Neugier.« Und an Justin gewandt: »Würde es Ihnen wohl etwas ausmachen, mir von Leonards Tod zu erzählen?«
Er verneinte, eigentlich nicht, nein, nicht wirklich, aber er tat es auch nicht allzu gern. Dirkson kam direkt zur Sache, voller Eifer und unglaublicher Neugier. Er stellte Fragen über Fragen zu Leonards letzten Momenten: Hatte er etwas berührt? Hatte er angedeutet, wo er sich vor diesem Treffen aufgehalten hatte? Hatte ihm Justin etwas gegeben oder etwas von ihm erhalten? Wie stand es um Leonards Gemütsverfassung?
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