Totenstadt
Leonards Büro ein. Es reichte bei Weitem nicht bis zu allen anderen Büros, und erst in diesem Moment fiel ihm auf, wie viele versteckte Winkel und Spalten es hier gab. Er wusste nicht einmal, wonach er suchen sollte.
Leonard, Mann, was wolltest du mir nur sagen?
Justin setzte sich; der Stuhl fühlte sich komisch an, der Abdruck, den ein anderer Hintern hinterlassen hatte. Allein der Schreibtisch war ein Gebirge aus Akten und Papierkram, und er wühlte sich durch jeden Stapel, ließ den Blick über die Seiten, Akten und die beiläufigen Kritzeleien auf Notizblöcken und Post-its gleiten. Es hätte alles und nichts davon sein können.
Als Nächstes nahm er sich die Schubladen vor, und die waren ein härterer Brocken. Die Schreibtischschubladen waren ein Trauerspiel, denn dort kam die wahre Person zum Vorschein. Leonard Greenwald, der Kundenbetreuer, mochte zwar überall auf dem Schreibtisch präsent sein, aber in den Schubladen war er einfach nur Len. Da waren kleine persönliche Schätze, Erinnerungen an den Mann, an seine Fehler und alles, was mit ihm zusammenhing; er war trotz allem ein Mensch mit Ecken und Kanten. Er fand eine große Flasche Mylanta und einen Flachmann mit J & B. Ein Streichholzheftchen, aus dem erst drei Hölzer fehlten und das aus einer modernen Bar in der Innenstadt stammte, auf den Deckel war eine Nummer gekritzelt, und Justin erkannte, dass Leonard sie schon angetrunken aufgeschrieben hatte. Ein Stapel Bleistiftzeichnungen – Daddy bei der Arbeit stand auf einer. Justin lächelte traurig. Welches von Leonards Kindern sah ihn als orangefarbenen Mann mit grünem Haar? Sie schienen so absichtlich in der Schublade platziert und so perfekt ausgerichtet zu sein, dass diese Sorgfalt nicht bloß dem Zufall entsprungen sein konnte.
Justin hatte ihn nie als einen Mann angesehen, der die Meisterwerke seiner Kinder im Büro stets in Reichweite haben wollte.
Offenbar hatte er sich da geirrt. Nicht zum ersten Mal.
Und er erfuhr hier noch sehr viele andere Dinge. Dies kam ihm mehr und mehr wie eine unnütze Aktivität vor.
Morgen war die Beerdigung, und er würde natürlich auch hingehen. Warum schien ihm das nicht zu reichen? Warum hatte er diesen Drang, er müsse Leonard unbedingt zuhören, selbst jetzt noch, wo er kalt und tot war? Was hatte er ihm denn nur sagen wollen?
Justin schaltete das Licht aus und verließ das Büro.
Der Mann hätte es ihm wirklich etwas einfacher machen können.
Klar. Tritt Leonard nur, wenn er sowieso schon am Boden liegt.
»Warum konnte es nicht wenigstens regnen?«, fragte Justin. »Der Tag ist viel zu schön für eine Beerdigung.«
April beugte sich zu ihm und drückte seine Hand noch fester. »Das stimmt doch gar nicht.«
Er sah hinauf zum Himmel, der im November blau und subtropisch erschien. Es waren nur wenige Wolken zu sehen, und selbst diese waren eher fein und flüchtig. Sie sahen aus wie diejenigen, die sich Träumer ansahen, um darin Formen zu finden, während sie auf dem Rücken im Gras lagen und die vorüberfliegenden Elefanten zählten. Ost-Tampa, wo die Vororte zu ländlichem Flachland wurden und die Palmen den Pinien Platz gemacht hatten. Ein ebenso guter Ort für einen Friedhof wie jeder andere.
»Scheint bei einer Beerdigung die Sonne, dann wäre man doch viel lieber ganz woanders. Irgendwo ganz woanders.«
»Erinnert dich das an Eriks Beerdigung?« Das sagte sie so unglaublich zärtlich. April hatte ein besonderes Talent dafür.
»Ja. Das auch.«
Dieses unwillkommene Déjà-vu; eine andere Beerdigung, ein anderer Staat, vergangenes Jahr. Beste Freunde oder Kollegen, diese Verabschiedungen waren doch immer dasselbe: zu formell und zu früh im Leben, aber auch viel zu schnell für jedes »Leb wohl«, das wirklich etwas bedeutet hätte.
Leonard Greenwald war evangelisch gewesen, daher blieb die Beerdigung auch eher schlicht. Es waren Familienmitglieder anwesend, von denen Justin noch nie etwas gehört hatte, Kollegen, die ihm in dieser Umgebung irgendwie komisch vorkamen, als hätten sie außerhalb der Agentur gar kein Leben. April und er waren angemessen feierlich und dunkel gekleidet, er trug grau und sie navy. Die Sitze in der Kirche waren unbequem und wackelten, und die Klimaanlage war viel zu hoch eingestellt.
Als Nächstes zog der Konvoi östlich zum Friedhof; alle Wagen hatten trotz der Mittagsstunde die Scheinwerfer eingeschaltet. Einige gingen unterwegs verloren, sodass ein paar Leute weniger am Begräbnisplatz, bei der
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