Totenstadt
als sparsamer Mensch ist Legende wurde April und Justin klar, dass der Mann ein notorischer Geizhals war, der mit Wohltätigkeit und Güte nicht viel am Hut gehabt hatte. Andrew Jackson Mullavey hatte es sich wohl zur Aufgabe gemacht, für die Sünden seines Vaters zu büßen. Die Liste der Danksagungen von Wohltätigkeitsorganisationen war seitenlang. Die Heilsarmee. Kirchen aller Glaubensrichtungen. Habitat for Humanity. Die Paralympics. Er hatte 1984 die »United Way«-Kampagne unterstützt. Als die Obdachlosigkeit nach 1980 zu einem immer größeren Problem wurde, war er an vorderster Front, um den Menschen neue Unterkünfte zu bieten. Er zeichnete sich auch verantwortlich für DreamWish, eine Organisation, die unheilbar kranken Kindern Wünsche erfüllte. Er war Mitglied der Industrie- und Handelskammer, mehrerer Colleges und Krankenhäuser und vieler weiterer Organisationen. Laut des neuesten Artikels sollte Mullavey im kommenden Monat als Mann des Jahres ausgezeichnet werden, bei dem jährlichen Bankett einer Organisation namens Direktorenallianz für eine bessere Zukunft, das Mitte Dezember stattfand.
Justin warf die Hände in die Luft, und in seinen Augen stand eine solche Verzweiflung, dass April schon aufstehen und ihn in den Arm nehmen wollte.
»Das ist widerlich«, sagte er. »Dieser Kerl ist einer der größten Heuchler aller Zeiten. Weißt du, was er sagte, als wir bei ihm Taubenschießen waren? Er erinnerte daran, wie man entlaufende Sklaven zu jagen pflegte, und er sabberte fast dabei.« Justin schüttelte verzweifelt den Kopf. »Weißt du, was ich für ein Bild abgebe, wenn ich mit diesen Disketten an die Öffentlichkeit gehe? Ich sehe aus, als würde ich dem Osterhasen eine Kanone an den Kopf halten.«
»Aber irgendjemand muss ihn doch durchschauen«, erwiderte April. »Man kann nicht so wie er herumgekommen sein, ohne irgendjemandem auf den Schlips zu treten.«
Er zuckte mit den Achseln und knurrte, seine Zuversicht schwand und seine Frustration war kaum noch zu toppen. »Ich habe das Gefühl, dass dies hier eher seine Art ist, aber niemand wirklich daran glauben will.«
Er hielt einen der neuesten Artikel hoch, in dem über den Mord an einem Vizepräsidenten von Mullavey Foods direkt in der firmeneigenen Garage die Rede war. Justin hatte den Mann gekannt.
»Ich schätze, er wollte sich einfach die Abfindung sparen.«
18
F AMILIENBANDE
Mittwochnachmittag, und als Andrew Jackson Mullavey im Charbonneau’s zu Mittag aß, hatte sich der Novemberhimmel wie eine frische Wunde geöffnet und in knapp einer Stunde schon mehr als zwanzig Zentimeter Niederschlag auf die Stadt herabgelassen. Es war ein warmer Spätherbsttag, und das French Quarter glich einer dampfenden Suppenschüssel. Sein neuer Chauffeur hatte noch nicht die richtige Routine. Er schlenderte nach hinten, nachdem er die Limousine angehalten hatte, öffnete die Tür und stand lächelnd und vor Stolz dämlich glotzend herum, während Mullavey wartete. Fünf Sekunden, zehn, und der Junge war nass bis auf die Knochen, bevor ihn Mullavey fragte, ob er nicht vielleicht doch von vorn den Schirm holen wolle.
Er setzte sich zu Nathan in seinem Privatabteil, von dem aus man den gesamten Saal überblicken konnte. Drei Wachen saßen unten in der Nähe, tranken Kaffee und sahen irgendwie so aus, als würden sie nicht dorthin gehören. Sie hatten sich gerade gesetzt, da war auch schon ihr Essen fertig. Es gab Kalbsfleisch in roter Soße mit Weinpasta und Spinatbrot. Mullavey stopfte sich eine Leinenserviette in den Kragen und stocherte appetitlos auf seinem Teller herum.
»Wenn du weiter so lustlos isst«, meinte Nathan, »dann sehe ich das noch als persönliche Beleidigung an.«
Mullavey sah gleichgültig zu ihm hinüber. »Ja, und das wäre gewiss das Ende der Welt.« Der Rotwein schmeckte sauer und lag schwer im Magen. Er hatte Verdauungsprobleme, und das schon seit einer Woche. »Es geht mir nicht gut, Nathan. Ich bin kein gesunder Mann, und ich habe von dir noch nichts gehört, was meine Stimmung steigern könnte.«
Nathan steckte sich die gefüllte Gabel in den Mund und kaute, während er die Stirn in Falten legte. »Isst du das Fleisch lieber vom Kalb oder vom Rind?«
»Vom Rind. Schon immer …«
»Vom Rind?« Nathan sah überrascht aus. Er schüttelte den Kopf, als dachte er, dass neben ihm ein Volltrottel säße. »Jeder, wie er mag.«
»Verdammt noch mal, Nathan, seit letzten Mittwoch warte ich darauf, dass mir irgendjemand
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