Totenstätte
auf dem Küchentisch und unter den Briefen, die sie von der Fußmatte aufgehoben hatte, war sie auf nichts Ungewöhnliches gestoßen – nur Rechnungen und Werbung. Anders als Nazim und Rafi schien Anna Rose freiwillig ihre Sachen gepackt und ihre Wohnung verlassen zu haben.
Jenny wollte nicht der Versuchung erliegen zu spekulieren, aber ein siebter Sinn sagte ihr, dass dieser Raum einer Person gehörte, die noch lebte. Hier roch es nicht nach Tod. Die Atmosphäre war gestört, aber nicht vergiftet.
Noch einmal schaute sie sich um und suchte nach irgendeinem Hinweis. Nichts. Keine Notizbücher, keine Papierfetzen, kein Müll im Papierkorb, überhaupt keine Spur von Anna Rose. Nur Lehrbücher und eine Reihe von Taschenbüchern auf dem Regalbrett darunter. Jenny überflog die Titel: seichte Literatur für junge Frauen und ein paar kitschige Promibiografien. Anna Rose mochte intelligent sein, aber intellektuell war sie nicht. Jenny kam es merkwürdig vor, dass eine kluge junge Frau jenseits ihres begrenzten Fachgebiets keinerlei Neugierde verspürte, aber irgendwie kannte sie so ein Verhalten auch. Sie betrachtete ein gerahmtes Plakat, das sie zuvor kaum wahrgenommen hatte. Es war der einzige Gegenstand, der entfernt etwas mit Kultur zu tun hatte, und wirkte auf den ersten Blick wie eine plumpe Karikatur der Mona Lisa. Bei näherer Betrachtung erwies sich das Plakat als Collage aus Hunderten von Fotos von Britney Spears in verschiedenen provozierenden Posen. Das war raffiniert gemacht, sexy und seriös zugleich, und dürfte sowohl die Wissenschaftlerin als auch das Partygirl in Anna Rose angesprochen haben. Jenny musste an ihren Besuchbei Sarah Levin denken. Die junge Akademikerin verbrachte ihre Tage über der Teilchentheorie, aber wenn sie abends heimkam, schaute sie wahrscheinlich MTV und las Hochglanzmagazine. Diese Frauen verkörperten eine ganz bestimmte Haltung. Sie nahmen eine Menge Dinge für selbstverständlich, die es für Jennys Generation nie gegeben hatte, besaßen aber kein rechtes Format. Woran glaubten sie? Worauf würden sie in einer Krise zurückgreifen können?
Nach einem letzten Blick auf ihr Dosimeter schloss sie die Wohnungstür hinter sich ab. Die Strahlenspur hatte sich verlaufen. Doch als Jenny das Gebäude verließ, wusste sie bereits, was ihr nächster Schritt sein würde.
Niemand öffnete, als sie bei Sarah Levin klingelte. Über eine Stunde lang wartete Jenny in ihrem Wagen und versuchte die Spekulationen, die ihre Fantasie bevölkerten, in glaubwürdige Theorien zu verwandeln. Bedachte man, dass jede von ihnen den Diebstahl radioaktiven Materials als Ausgangspunkt haben musste, war das kein leichtes Unterfangen.
Mittlerweile hatte es zu regnen begonnen. Sie fühlte sich müde und hätte eine Tablette gebraucht, als plötzlich auf der anderen Straßenseite ein taubenblauer Fiat 500 in eine Lücke einparkte. Sarah Levin stieg aus und schleppte etliche exklusive Einkaufstüten in Richtung Haustür. Jenny war schneller und fing sie vorher ab.
»Dr. Levin, ich würde Ihnen gerne noch ein paar Fragen stellen.«
Die junge Frau reagierte überrascht und unwirsch.
»Jetzt? Machen Sie Witze? Ich wollte nur schnell die Tüten abstellen, dann bin ich wieder auf dem Sprung.«
Sie steuerte auf die Haustür zu. Jenny lief hinterher.
»Es geht um Anna Rose Crosby. Ich habe gehört, dass Sie die junge Frau gut gekannt haben.«
Sarah Levin hielt inne und drehte sich verärgert um.
»Freunde von mir sind Rechtsanwälte. Die konnten es gar nicht fassen, dass Sie zu mir nach Hause gekommen sind. Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind?«
»Anna Rose wird vermisst.«
»Davon habe ich gehört.«
»Können Sie sich vorstellen, was dahintersteckt?«
»Woher soll ich das wissen? Ich war ihre Tutorin, nicht ihre Freundin. Und jetzt muss ich mich wirklich beeilen.« Sie holte den Schlüssel aus der Tasche.
»Ihre Eltern waren ziemlich überrascht, dass sie den Job in Maybury bekommen hat«, sagte Jenny. »Sie glauben, dass Sie vielleicht ein bisschen nachgeholfen haben.«
Sarah Levin seufzte theatralisch und warf ihr langes blondes Haar zurück. »Ich schreibe für all meine Studenten Empfehlungen. Keine Ahnung, worum es hier eigentlich geht. Und da Sie offenbar auch nicht vorhaben, mich aufzuklären, lassen wir es doch dabei bewenden, oder?«
Jenny war drauf und dran, ihr die ganze Geschichte zu erzählen – von Mrs. Jamal, dem Cäsium 137, von einfach allem –, aber ihr Instinkt riet ihr, sich
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