Totenstätte
hier im Flur. Man kennt das ja mittlerweile von Studenten …«
Jenny konnte nur mühsam sprechen. »Was haben Sie McAvoy erzählt?«
»Dass ich sie mal aus Versehen gestört habe. Sie sind auseinandergewichen, als hätten sie sich geküsst. Ich weiß noch, dass sie ziemlich nervös wirkten.«
»Haben Sie mit Dr. Levin je darüber gesprochen?«
»Über so etwas reden wir nicht unbedingt«, wehrte erab. »Die Frau ist außerordentlich begabt. Irgendwann hat sie ein Stipendium für Harvard bekommen und ist dann mit den besten Referenzen zurückgekehrt.« Seine Miene wirkte fast gequält. »Sarah würde sich nie etwas zuschulden kommen lassen. Das ist absolut undenkbar.«
Jenny atmete tief durch. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich Sie bitten, eine Aussage zu machen.«
Ihr Körper brannte. Die Kälte fühlte sie nicht länger.
19
D ie Leute um sie herum hatten schon immer bemerkt, wie ruhig Jenny auf schlechte Nachrichten reagierte. Während andere Menschen angesichts plötzlicher Todesfälle oder unerwarteter Tragödien in Tränen ausbrachen, regte sich in ihr kaum etwas. Eine unnatürliche Abgeklärtheit bemächtigte sich ihrer, und ihre Augen blieben unweigerlich trocken, wenn die emotional aufgewühlten Zeitgenossen ihre Nähe suchten. Sie strahlte Sicherheit aus und wirkte beruhigend. Viele Jahre lang hatte Jenny selbst geglaubt, sie besitze eine natürliche Immunität gegen Trauer und sei stärker als die meisten Menschen. Sie musste erst neununddreißig werden und ihre Phase durchmachen – sie hatte sich stets geweigert, von einem Zusammenbruch zu sprechen –, um die Wahrheit zu erkennen. Dr. Travis, der liebenswürdige Psychiater, der sie geduldig und zuversichtlich durch die schlimmsten Monate begleitet hatte, hatte ihr zu begreifen geholfen, dass sie ab einer bestimmten Ausprägung ihre Gefühle internalisierte und gar nicht erst an die Oberfläche dringen ließ. Sie existierten, waren sogar sehr heftig, blieben aber in einem Raum tief in ihrem Unterbewusstsein verschlossen. Nun musste es darum gehen, die Tür zu diesem Raum Millimeter um Millimeter zu öffnen, um das Trauma – was auch immer es war – herauszulassen und zu verarbeiten. Sosehr Jenny sich aber auch bemühte, sie hatte den Schlüssel noch nicht gefunden.
Alec McAvoy hatte sie betrogen. Er hatte die ganze Zeit über gewusst, dass Sarah Levin und Nazim ein Verhältnis miteinander gehabt hatten, und er hatte ihr nichts davon erzählt. Warum? Stattdessen war er zu ihrer Anhörung gekommen, hatte sie ausgehorcht und ein Gedicht zitiert.
Wer war dieser Winkeladvokat wirklich, dieser rechtskräftig Verurteilte, der in ihr Innerstes vordrang und ihr wie kein anderer das Gefühl gab, nicht allein zu sein? Was wollte er von ihr? Hatte Alison vielleicht recht? Benutzte er ihre Untersuchung in der Hoffnung, seine gescheiterte Karriere zu retten? Oder waren seine Beweggründe noch unmoralischer?
Sie wusste es nicht. Sie konnte es nicht wissen. Sie spürte ihren Instinkt nicht mehr, ihre Intuition war vernebelt. Die rasende Wut und die Enttäuschung, die eigentlich aus ihr herausbrechen mussten, waren tief in ihr verschlossen und ließen ihr nichts, an dem sie sich festhalten konnte, nur eine schwache Logik. War er Engel oder Teufel? Sie selbst befand sich in der Vorhölle, würde es also nie erfahren.
Mit dem messerscharfen Bewusstsein, das ihr geblieben war, beschloss sie, wieder die Kontrolle über ihr Leben zu gewinnen. Sie würde nur ihrem Intellekt trauen, sämtlichen Spekulationen widerstehen und ihre Untersuchung streng nach Vorschrift durchführen. Es war ein Fehler gewesen zuzulassen, dass der unbestechliche rationale Teil ihrer Persönlichkeit untergraben wurde. Legen Sie hinreichend tiefe Fundamente, hatte Dr. Travis ihr geraten, dann können Sie zwar ins Wanken geraten, aber Sie werden niemals fallen.
Als sie das letzte Stück nach Melin Bach hinauffuhr, merkte sie, dass die vierzig Minuten wie im Fluge vergangen waren. Die Ängste und Bilder, die sie auf den dunklen Heimfahrten oft plagten, hatten sich in Luft aufgelöst. Ihre Augen orientierten sich am Scheinwerferlicht, und als sie ihrzukünftiges Vorgehen plante, funktionierte ihr Geist so mechanisch wie ein Uhrwerk. Mitte der Woche würde sie die Anhörung wieder aufnehmen. Die Vorladungen an die Zeugen würde sie morgen früh sofort rausschicken, dann würde sie detailliert ihre Verhöre vorbereiten, die jede Beweislücke zum Vorschein bringen würden. Sie würde
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