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Totenstätte

Totenstätte

Titel: Totenstätte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. R. Hall
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sagte David, mehr zu Ross als zu Jenny. Er erhob sich. »Jetzt sollten wir aber aufbrechen. Du musst vermutlich noch arbeiten.«
    Ross schaute zu Boden. »Wir sehen uns.«
    »Hoffentlich bald«, sagte Jenny.
    Er nickte. Das Haar fiel ihm über die Augen.
    David ging zur Tür und legte Ross väterlich die Hand auf die Schulter. »Du musst nicht mit zur Tür kommen.«
    Auf dem Gartenweg entfernten sich ihre Schritte. Das Tor fiel zu, der Motor sprang an, David raste den Hügel hinab. Die Stille, die folgte, war so absolut wie die Schwärze der Nacht.
    Jenny sank auf einen Stuhl, blieb reglos sitzen und wünschte, sie könnte endlich die Scham verspüren, die das Bild in ihrem Kopf eigentlich auslösen sollte: sie selbst, in Klamotten gerade aufgewacht, die Tabletten auf dem Boden verstreut, das Tagebuch aufgeschlagen am Fußende, ein paar hingekritzelte Zeilen. Ross hatte sie gelesen, klar, wenn auch nur, um zu verstehen, warum sich seine Mutter ins Haus geschleppt und es nicht einmal mehr aus eigener Kraft ins Bett geschafft hatte. Er wusste von einem Mann, der McAvoy hieß, von ihrer Schuld, ihren Sehnsüchten, den Gespenstern, die sie heimsuchten. Seinem Vater würde er wahrscheinlich nichts davon erzählen, weil damit seine Verwirrung über die Entdeckung, eine verrückte Mutter zu haben, nur noch größer werden würde.
    Das Schlimmste an allem war, dass David mit seinen Vermutungen richtiglag. Sie war nicht in der Lage, sich um einen Halbwüchsigen mit seinen eigenen Problemen zu kümmern. Dass sich Ross unter ihrem Dach gut entwickelt hatte, das war eine Illusion gewesen. Seine relative Ruhe hatte einzig und allein damit zu tun gehabt, dass sie ihm mit ihren Dramen die Schau gestohlen hatte. Sie hatte ihm keinen Freiraum gelassen, sie hatte ihn erstickt.
    Obwohl Ironie in diesem Moment völlig unangemessen war, musste sie daran denken, was ihre verstorbene Mutter einmal gesagt hatte. Sie selbst hatte ihre Familie verlassen, als Jenny noch zur Schule gegangen war. Als Jenny zum ersten Mal davon gesprochen hatte, sich von David scheiden zu lassen, hatte ihre Mutter behauptet, dass es Kindern besser ging, wenn ihre Eltern zusammen unglücklich waren, als wenn sie sich glücklich trennten. Wie hatte sich Jenny gegen diesen Gedanken aufgelehnt. Wie unvorstellbar war es ihr vorgekommen, dass eine unterdrückte, traurige Ehefrau und Mutter sich besser um ihr Kind kümmern können sollte. Eine andere Lebensweisheit ihrer Mutter war bitterer Erfahrung entsprungen: Eine Frau, die ihr Heim verlässt, verlässt alles. Vielleicht hatte sie letztlich doch recht gehabt. Jenny hatte nichts erlebt, das diesen Satz widerlegen konnte – genauso wie Mrs. Jamal.
    Das Telefon klingelte so unerwartet, dass sie zusammenzuckte. Sie meldete sich mit einem knappen Hallo. Am anderen Ende war nur eine elektronische Stimme zu hören, die ihr mitteilte, dass sie neue Nachrichten habe. Stumm erfüllte sie ihr die Bitte, sie jetzt abzuspielen.
    Es waren acht Nachrichten. Kriminalinspektor Pironi hatte zwei Mal angerufen. Zunächst teilte er ihr mit, dass die Ereignisse in Mrs. Jamals Wohnung ausschließlich eine Angelegenheit der Polizei seien. Beim zweiten Anruf betonte er, dass die Ermittlungen zur Quelle der Verstrahlung absolut geheim seien. Der Presse habe man erklärt, dass die weiß gekleideten Männer, die in dem Wohnblock herumliefen, nur nach weiteren Spuren zum Selbstmord von Mrs. Jamal suchten. Zwei Mal hatten sich Lokaljournalisten gemeldet, die sich Informationen erhofften, eine Nachricht war vonGillian Golder, die brüsk um baldigen Rückruf bat, und zwei von Simon Moreton, der im Justizministerium für die Coroner zuständig war. Mit der falschen Freundlichkeit, mit der er auch seinen eigensinnigen Untergebenen begegnete, bat er um Rückruf »in einer wichtigen Angelegenheit« und hinterließ seine Privatnummer. Die letzte Nachricht stammte von Steve, der sich erkundigte, wie es ihr ging, und erklärte, er würde gerne vorbeikommen.
    Mit gefühllosen Fingern tippte sie seine Nummer, ohne zu wissen, was sie sagen sollte. Er meldete sich beim zweiten Klingeln.
    »Ich bin’s. Du hast eine Nachricht hinterlassen.«
    »Ja. Na ja, ich … Ich hätte es neulich abends nicht so enden lassen sollen.« In seiner Stimme lag eine gewisse Dringlichkeit, als hätte er auf ihren Anruf gewartet.
    »Richtig«, sagte sie distanziert.
    »Weißt du, ich hatte selbst ein paar Probleme.«
    »Mhm.«
    Eine Pause trat ein. Er seufzte, ungeduldig mit

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