Totenstätte
keine Urteile fällen und keine Schlüsse ziehen außer solchen, die durch die Aussagen zu hundert Prozent gerechtfertigt sein würden. Jenseits von jeglichen Einflüssen und ungeachtet aller Kritik würde sie Gerechtigkeit streng nach Gesetz ausüben. So legte man Fundamente, und so würde sie auch das Vertrauen wiedergewinnen, das, wie McAvoy nebenbei bemerkt hatte, irgendjemand aus ihr herausgeprügelt hatte.
Jenny gab einem Anflug von Trotz nach: Vielleicht hatte er sie ja ungewollt stärker gemacht.
Im Cottage brannten die Lichter. Der Weg zur Haustür wurde von der starken Halogenlampe beleuchtet, die sie für den Winter angebracht hatte. Auf der Straße stand ein dunkelblauer BMW. Sie erkannte ihn sofort. Er gehörte David, ihrem Exmann.
Als sie vorfuhr, öffnete sich die Fahrertür, und er stieg aus. Er wirkte noch schlanker und sportlicher als vor drei Monaten, als sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte. Zu Baumwollhose und T-Shirt trug er einen schmalen Lambswoolpullover mit V-Ausschnitt. Trotz seiner siebenundvierzig Jahre war sein Haar immer noch tiefbraun, sein Gesicht war von gerade genug Falten durchzogen, um ihm eine gewisse Seriosität zu verleihen, ohne ihm das Jungenhafte zu nehmen. Irgendwie hatte er es geschafft, sich diese Alterslosigkeit zu bewahren, obwohl er fünfzehn Stunden am Tag als Herzchirurg arbeitete. Gerecht war das nicht, dass er mit den Jahren immer besser aussah, während sie selbst langsam altwurde. Als sie ausstieg, kam er auf sie zugeschlendert, arrogant wie immer.
»Jenny. Wir haben uns gefragt, wo du bist.« Auf unnachahmliche Weise signalisierte sein Blick, dass alles, was sie betraf, unweigerlich eine amüsante Seite hatte.
»Ich hatte mein Handy ausgeschaltet. Man hat mich das ganze Wochenende über verfolgt.« Sie blickte zum Haus und sah, dass Ross gerade am Treppenhausfenster vorbei nach oben ging. »Ich dachte, Ross wäre heute Abend bei dir?«
»Ist er auch.« Er bedachte sie mit einem besänftigenden Lächeln. »Und er wird wohl auch noch eine Weile bleiben.«
»Er wird was? Wie lange? Was hast du ihm erzählt?« Sie hörte, dass ihre Stimme unsicher klang.
»Beruhige dich, Jenny. Ich bin nicht gekommen, um mich mit dir zu streiten. Im Gegenteil. Aber es ist kalt hier draußen. Warum gehen wir nicht hinein?«
Er trat auf das Gartentor zu. Sie blieb stehen.
»Wann hat Ross das beschlossen? Ich dachte, er sei glücklich hier. Seine Freundin wohnt nur ein Stück die Straße runter.«
»Er sieht sie im College.«
»Die Idee war doch, ihn von der Stadt fernzuhalten. In der Zeit, in der er bei mir wohnt, hat er keine Drogen mehr angerührt.«
»Seit letztem Sommer ist er reifer geworden. Vielleicht fällt mir das stärker auf, weil ich ihn seltener sehe.«
»Was soll das alles? Warum hat er seine Meinung geändert?«
»Können wir nicht in Ruhe darüber reden?«
»Ich bin ruhig, David.«
»Du zitterst.«
Jenny schloss die Augen. Sie sollte gar nicht darauf reagieren.
»Ich möchte nur, dass du mir erzählst, was sich plötzlich verändert hat«, sagte sie und riss sich zusammen. »Du hast mit ihm gesprochen, oder?«
»Möchtest du diese Unterhaltung wirklich hier draußen führen?«
»Wo immer du willst.«
Sie ging den Weg entlang.
»Soll ich nun mit hineinkommen oder nicht?«
»Wär vielleicht keine schlechte Idee, wenn du mir schon meinen Sohn wegnehmen willst.«
Die Haustür war angelehnt. Sie stieß sie auf, ging direkt ins Wohnzimmer, zog ihren Mantel aus und warf ihn auf einen Sessel. David folgte zögernd.
»Klingt, als wäre er oben«, sagte Jenny. »Mach besser die Tür zu.«
Sie blieb mit verschränkten Armen stehen und wartete auf eine Erklärung. David sah sich in dem Raum mit dem Steinfußboden, den niedrigen Deckenbalken und den zugigen Fenstern um. Seine Miene sprach Bände: Kein Wunder, dass er nicht bleiben will .
»Und?«, fragte Jenny.
David trat zum Sofa und setzte sich vorsichtig auf die Lehne, als könnte sie unter ihm nachgeben. »Ich möchte ehrlich mit dir sein, Jenny. Er macht sich Sorgen um dich. Er denkt, du bist einem zu großen Druck ausgesetzt, um dich auch noch um ihn kümmern zu können.«
»Das hat er gesagt?«
»Ja.«
»Weil nicht jeden Abend um sechs das Essen auf dem Tisch steht? Du arbeitest doch noch länger als ich.«
»Ich habe Deborah.«
»Die arbeitet auch.«
»Sie hat gerade auf Teilzeit gewechselt.«
»Ach ja? Hast du ihr eine Wahl gelassen?«
David parierte den Seitenhieb mit einem trockenen
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