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Totenstätte

Totenstätte

Titel: Totenstätte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. R. Hall
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sich selbst. »Was ich gesagt habe … über die Wahl, die man treffen muss … Das gilt für beide Seiten. Ich habe mich zehn Jahre lang versteckt, um vor diesem Problem zu fliehen.«
    Sie wusste, dass sie etwas sagen sollte, dass sie auf seine unterschwellige Botschaft reagieren sollte, aber sie hatte keine Ahnung, was er ihr eigentlich mitteilen wollte. »Vor was für einem Problem?«, fragte sie.
    »Überzeugungen«, sagte Steve. »Wofür ich stehe. Was ich fühle.«
    »Aha.«
    »Ich muss mit dir reden, Jenny. Es gibt etwas, das du wissen solltest.«
    Ein Schauder durchfuhr sie, der eher mit Erschöpfung als mit irgendwelchen Gefühlen zu tun hatte.
    »Steve, ich bin sehr müde …«
    »Jenny …«
    »David hat Ross mitgenommen.«
    »Oh. Bist du daheim?«
    »Du kannst von mir heute nichts erwarten. Komm nicht … Ich muss schlafen.«
    »Jenny …«
    »Bitte nicht.« Sie legte auf und spürte nichts als Erleichterung.
    Sie war versucht, ihr Tagebuch zu vernichten, es ins Feuer zu werfen und damit in Asche zu verwandeln. Als sie vor dem Herd stand und bereits nach den Streichhölzern griff, wurde sie plötzlich von der unwiderstehlichen Neugierde gepackt, den letzten Eintrag noch einmal zu lesen. Sie wollte einen Blick auf den Wahnsinn erhaschen, der die Welt um sie herum hatte zusammenstürzen lassen.

    Ich weiß nicht, was heute Abend passiert ist. Dieser Mann … Irgendetwas macht er mit mir. Ich finde ihn nicht einmal attraktiv – er ist so müde, so verbraucht. Aber wenn er mir in die Augen schaut, weiß ich, dass er vor nichts Angst hat. Was bedeutet das? Warum er? Warum jetzt? Es ist, als ob
    Entfernt konnte sie sich wieder daran erinnern, wie sie die Zeilen geschrieben hatte. Sie hatte an ihrem Schreibtisch gesessen und einen tieferen Sinn verspürt, den sie nicht in Worte fassen konnte. Ein nervöses Klopfen an der Tür. Ross hatte hereingeschaut und gesagt, dass es spät sei. Als er sie die Treppe hochgeführt hatte, hatte sie sich das Tagebuch an die Brust gedrückt. Ihre Schulter war an der Wand entlanggeschrammt, und sie war gestrauchelt, weil die Stufenzu steil für sie waren. An alles, was danach kam, konnte sie sich nicht mehr erinnern.
    Mit einem Anflug von Selbstekel schlug sie das Tagebuch zu, starrte die Streichhölzer aber nur an, ohne sie zu benutzen. Stattdessen hörte sie die Stimme von Mr. Travis, wie er sie am Anfang ihrer Behandlung davor gewarnt hatte, sich in Fantasien zu verlieren. Ihre Unsicherheit durfte nicht in einer Weise überhandnehmen, dass sie an unsinnige Dinge zu glauben begann und Verbindungen herstellte, wo keine waren. »Behalten Sie festen Boden unter den Füßen«, hatte er gesagt. »Selbst das kleinste Fleckchen Erde ist besser als die offene See.« Für den akuten Notfall mochte das ein guter Rat gewesen sein, aber irgendwann musste es doch weitergehen, irgendwann musste man neues Terrain erobern.
    Es ist, als ob … Plötzlich fiel es ihr ein. Sie griff nach einem Stift, schlug die Seite wieder auf und vervollständigte den Satz: Es ist, als ob … er zu mir gekommen ist, um mir etwas zu sagen, das ich wissen muss .
    Es war fast Mitternacht. Sie nahm das Tagebuch mit ins Schlafzimmer und versteckte es in der üblichen Schublade. Als sie ins Bett ging und sich der Kälte wegen zusammenrollte, hatte sie das Gefühl, dass sich etwas verändert hatte. Zum ersten Mal seit Stunden spürte sie etwas: Angst und Wut. Aber auch ein vages Gefühl, den kleinsten Hauch von Überschwang.

20
    S ie zog das schwarze Kostüm an, das sonst für formale Anlässe reserviert war, dazu eine elfenbeinfarbene Seidenbluse, eine schlichte Silberkette und schmale, elegante Schuhe, die ihre Zehen einquetschten. Dann tupfte sie Parfüm auf ihre Handgelenke, zog ihren besten Mantel aus Kaschmir an, schluckte eine Xanax-Tablette, kontrollierte ihr Make-up und fuhr durch das Tal, das noch im Nebel lag.
    Als sie die Severn Bridge hinter sich gelassen hatte, rief sie im Büro an, wohl wissend, dass Alison noch nicht da sein würde. Sie hinterließ die Nachricht, sie würde auf ihrem Weg ins Büro noch einen Zwischenstopp einlegen müssen, stellte das Handy aus und steckte es in die Tasche. An ihrer üblichen Ausfahrt blieb sie auf der Autobahn, nahm erst die nächste und fuhr dann in Richtung Innenstadt zum Justizpalast.
    Auf der Außentreppe standen müde Anwälte. Daneben hingen ein paar junge Männer in Kapuzenjacken und ihre genervten, gepiercten Freundinnen herum. Alle rauchten und vermieden

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