Totenstätte
Worten heraus. Ernst sprach er weiter. »Sie haben fünfzehn Jahre im Familienrecht gearbeitet, nicht wahr?«
»Ja.«
»Sie haben die Gemeinden vertreten, wenn es darum ging, über das Sorgerecht für gefährdete Kinder zu entscheiden.«
»Größtenteils.«
Er blätterte in seinem Notizheft zurück. »Genau, da ist es. Eine ausgewachsene Panikattacke hatten Sie zum ersten Mal in einem Gerichtssaal. Sie haben einen Arztbericht vorgelesen … Erinnern Sie sich an den Fall?«
»Den werde ich wohl kaum vergessen können.« Ihr Herz schlug schneller. Sie schloss die Augen, atmete tief ein und konzentrierte sich auf das Bild eines Sonnenuntergangs am Mittelmeer. Die Vorstellung half ein wenig, wenn auch nicht viel. »Es ging um einen achtjährigen Jungen, Patrick Lindsey. Ich hatte mehr oder weniger zwei Jahre lang mit dem Fall zu tun. Seine Mutter kam mit ihrem Sohn nicht zurecht, also haben wir ihn in Pflege gegeben. Die meisten Kinder sind froh, wenn sie aus einem derart chaotischen Haushalt herausgeholt werden, er aber wollte ständig nach Hause zurück. Gegen den Rat des Sozialarbeiters habe ich mich dafür entschieden, den Antrag der Mutter, den Jungen wieder zu sich zu nehmen, nicht abzulehnen. Am ersten Wochenende, als er wieder zu Hause war, hat sie sich betrunken und ihn mit einem Topf kochendem Wasser übergossen … In dem Arztbericht, den ich vorgelesen habe, ging es um die Verbrennungen.«
Dr. Allen kritzelte schnell alles mit. Er schrieb immer noch, als er sagte: »Und dann haben Sie Ihren Arbeitsbereich von den Gefährdeten auf die Toten verlegt – tote Menschen, fürdie jede Hilfe zu spät kommt, denen man aber auch nicht mehr schaden kann.«
»Mhm. Möglich.«
Er balancierte seinen Stift in der Luft und sah sie eindringlich an. »Sie tun Leuten nicht gerne weh, nicht wahr, Jenny? Tatsächlich würde ich sogar so weit gehen zu sagen, dass Sie alles tun würden, um niemanden zu verletzen.«
»Das gelingt mir nicht sehr gut.«
»Wenn Sie von Ihrem Exmann gesprochen haben, ging es immer um seine Arroganz und darum, dass er Sie und seine Patienten von oben herab behandelt. Ich kann mich noch gut erinnern: Einmal haben Sie gesagt, dass es Sie wütend macht, wie wenig ihn der Schaden berührt, den er anrichtet.«
»Ein herzloser Herzchirurg. Das muss man sich mal vorstellen.«
»Vielleicht ist er auch nur mit einer grundlegenden Tatsache des Lebens im Einklang: Man kann nicht leben, ohne zu verletzen. Tatsächlich heiraten wir oft Leute mit Eigenschaften, die uns selbst fehlen.«
»Aber ich verachte seine Lebenseinstellung.«
»Trotzdem versuchen Sie, sie nachzuahmen. Es ist keine unterwürfige, mütterliche Frau, der ich zwei Mal im Monat gegenübersitze.«
»Gerade eben haben Sie noch gesagt, dass ich es nicht ertragen könnte, jemanden zu verletzen.«
»Ihre Abwehr lässt darauf schließen, dass ich einen Nerv getroffen habe. Die emotionalen Reaktionen der Menschen brechen zusammen, wenn sie die Last, die sie sich bewusst oder unbewusst selbst aufgeladen haben, nicht länger ertragen können. Jetzt wird mir auch allmählich klar, dass Sie ein gewaltiges Verantwortungsgefühl für Dinge haben, die Sie nicht kontrollieren können.«
»Soll das vielleicht jetzt so etwas wie eine Offenbarung sein? Fühlt sich für mich nicht so an.«
»Dieser Traum, den Sie das letzte Mal erwähnt haben – die Kinder, die sich in Luft auflösen. Sie konnten nichts für sie tun, rein gar nichts. Das hat Sie in Panik versetzt.«
»Ihrer Logik kann ich nicht widersprechen.«
»Dann das andere Bild, das Sie verfolgt – der Spalt, der sich in der Ecke Ihres Kinderzimmers auftut, das schreckliche, bisher unsichtbare Wesen, das in einem geheimen Raum dahinter lauert. Das Reich, in dem das Grauen herrscht, entzieht sich Ihrer Kontrolle.«
Jenny seufzte. Sie hatte die Fähigkeit verloren, sich für solche mutmaßlichen Enthüllungen zu begeistern.
Unbeirrt fuhr Dr. Allen fort. »Was haben Sie in Ihr Tagebuch geschrieben?«
»Kaum etwas.«
»Wirklich?«
Allein die Erwähnung ließ eine Welle von Scham über ihr zusammenschlagen. Es kam überhaupt nicht infrage, Dr. Allen zu gestehen, dass Ross es gefunden hatte. Nicht einmal sie selbst konnte ja diesen Gedanken ertragen. Sie speiste den Doktor mit der halben Wahrheit ab. »Größtenteils Geschichten darüber, dass ich mich wieder echt fühlen möchte, dass ich wieder ich selbst sein möchte.«
»Um zu finden, was Ihnen fehlt.« Eine Feststellung, die vor allem
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