Totenstätte
dazu diente, seine Theorie zu vervollständigen.
Jenny war enttäuscht, weil sie sich schon so oft an dieser Stelle befunden hatten. Dr. Travis hatte wenigstens ein paar interessante Ideen gehabt, auch wenn die alle im Sande verlaufen waren.
»Lassen Sie uns in die Vergangenheit zurückgehen.«
»Schon wieder?« Jenny konnte ihren Zynismus nicht verhehlen.
»Machen Sie bitte mit«, beharrte er. »Es ist nur zu Ihrem Besten.«
Sie war erstaunt. Acht Monate lang hatte er sich hinter einer Maske der Passivität versteckt. Seine Bestimmtheit war neu.
»Schließen Sie Ihre Augen. Spüren Sie, wie Sie in Ihrem Stuhl versinken …«
Sie zwang sich, die Augen zu schließen, und überließ sich unwillig dem vertrauten Ritual. Mit seinen Worten führte er sie durch die verschiedenen Stadien der körperlichen Entspannung. Füße, Fußgelenke und Beine wurden schwer, dann Hände, Arme, Kopf, Oberkörper, Unterleib, innere Organe. Während Jenny immer tiefer sank, wurde Dr. Allens Stimme kontinuierlich schwächer, bis sie nur noch ein fernes Echo in der tröstlichen Dunkelheit war, ihrem Schutzmantel zwischen Wachen und Schlaf.
Unbemerkt wollte sie dem Drang der Schwere nachgeben.
»Bleiben Sie bei mir, Jenny«, sagte Dr. Allen. »Sie sind hier absolut sicher. Ihnen kann nichts passieren. Ich möchte, dass Sie dorthin zurückgehen, wo Sie schon einmal waren. Sie sind ein Kind in Ihrem Kinderzimmer und spielen, allein. Sie hören ein lautes Klopfen an der Haustür, erregte Stimmen. Es ist Ihr Großvater. Er ruft, schreit.«
Jennys Körper zuckte unwillkürlich.
»Sagen Sie mir, was er ruft.«
»Ich kann … Ich kann es nicht hören.«
»Sie können die Worte nicht hören?«
»Nein.«
»Sind da noch andere Stimmen?«
Pause. Jennys Augen bewegten sich unter den geschlossenen Lidern.
»Da ist eine Frau … Sie schluchzt, sie heult … Meine Mutter.«
»Sagt sie etwas?«
»Sie schreit. Nein, nein – ruft sie immer wieder.«
»Und dann?«
Jenny schüttelte den Kopf. »Es geht immer so weiter.«
»Was ist mit den Männern? Was sagen sie?«
»Die sind jetzt still. Nur meine Mutter … Man hört nur ihr Geschrei. Ihre Stimme dröhnt die Treppe zu mir hinauf.«
»Wie fühlen Sie sich? Was tun Sie?«
»Ich möchte nur fort … Ich möchte weggehen, nach draußen, das Haus verlassen.«
»Warum?«
»Keine Ahnung … Ich möchte nur weg.«
»Wovor haben Sie Angst?«
Tränen quollen unter ihren Lidern hervor und liefen ihre Wange hinunter. »Ich kann nicht … Es hat nichts mit mir zu tun. Es ist nicht meine Schuld.«
»Was ist nicht Ihre Schuld?«
»Das Geschrei … Ich halte es nicht aus.«
»Warum sollte es Ihre Schuld sein?«
»Ich möchte das nicht … Es ist schrecklich hier … Es ist schrecklich. Ich möchte nur weg.«
»Wo möchten Sie hingehen, Jenny? Erzählen Sie mir, wohin Sie gehen möchten?«
»Es gibt keinen anderen Ort … Sie würden mich sehen … Es gibt sonst nichts … Ich kann nicht gehen, nicht einmal nach …« Ihr Körper bäumte sich auf, als hätte sie einen elektrischen Draht berührt. Abrupt war sie wieder bei Bewusstsein und starrte mit aufgerissenen, ausdruckslosen Augen in die Luft.
Dr. Allen ließ ihr einen Moment, um sich zu fangen. »Wohin können Sie nicht gehen?«
Jenny blinzelte. »Zu Katy«, sagte sie und hob die Stimme auf der zweiten Silbe, als würde ihr der Name nichts sagen.
Dr. Allen zog ein Kleenex aus der Schachtel auf seinem Schreibtisch und reichte es ihr. Jenny trocknete ihre Augen und fühlte sich unangenehm leer, weder ruhig noch ängstlich.
»Wer ist Katy?«
»Keine Ahnung.« Sie schniefte, um die Tränen zu unterdrücken, und zitterte.
»Eine Schwester, eine Bekannte, eine Freundin?«
Jenny schaute auf. »Ich weiß es nicht. Keine Schwester …« Dr. Allen starrte ihr eindringlich ins Gesicht. »Was ist?«
»Ihr Großvater kommt mit schlechten Nachrichten zu Ihnen nach Hause, die Ihre Mutter zum Schreien bringen. Sie sagen, es war nicht Ihre Schuld. Bezieht sich das auf die Nachricht, die er Ihrer Mutter überbracht hat?«
»Ich weiß es nicht.« Sie schüttelte den Kopf. »Sobald ich wach war, schien alles nicht mehr wirklich zu sein … Vielleicht habe ich es mir nur eingebildet.«
»Aber Sie kennen jetzt einen Namen: Katy. Ich möchte, dass Sie herauszufinden versuchen, was das bedeutet.«
»Ich habe Ihnen doch erklärt, dass …«
»Tun Sie bitte, was ich sage. Das ist von nun an meine Bedingung dafür, dass Sie wiederkommen dürfen. Sie
Weitere Kostenlose Bücher