Totenstätte
eine unpersönliche, aber irgendwie auch exklusive Seite, die ein Minimum an Informationen preisgab. Das offizielle Büro befand sich in Hereford, was mit dem übereinstimmte, was McAvoy gesagt hatte. Geschäftsführer war Colonel Marcus Maitland. Spezialgebiete des Unternehmenswaren Personenschutz im In- und Ausland, operative Beratung und Sicherheitsplanung sowie strategische Sicherheitsdienste. Die Erläuterungen waren dürftig, die Sprache voller Klischees und nichtssagend. Es hätte sich auch um die Website einer Unternehmensberatung handeln können. Ehemalige Soldaten vom Special Air Service oder Söldner wurden nicht erwähnt.
Das Einzige, was eine Verbindung zwischen dem Unternehmen und Tathum herstellte, waren McAvoys Behauptungen, doch selbst wenn diese erfunden sein sollten – wie möglicherweise auch Madogs Geschichte von dem schwarzen Toyota –, fühlte sich Jenny verpflichtet, Colonel Maitland als Zeugen vorzuladen. Im Zweifelsfall würden damit dann wenigstens sämtliche Unterstellungen widerlegt werden.
Jenny druckte ein Formblatt für eine Zeugenvorladung aus, trug von Hand die Daten ein und forderte Maitland dazu auf, am Mittwoch, den 10. Februar zu ihrer Anhörung zu erscheinen. Eigentlich eine unzumutbar kurze Frist, die ihn aufschrecken und auf der Hut sein lassen würde. Statt das Schreiben mit einem Kurier zu schicken, beschloss sie sicherheitshalber, selbst hinzufahren. Obwohl die Zustellung durch Unterschrift bestätigt werden musste, neigten unwillige Zeugen immer wieder zu der Behauptung, die Vorladung habe sie nie erreicht. Auf Diskussionen würde sie sich gar nicht erst einlassen. Wenn Maitland und Tathum die Aussage verweigerten, würde Jenny sie wegen Missachtung des Gerichts ins Gefängnis stecken lassen. Es hatte nicht viele Vorzüge, Coroner zu sein, aber Leute maßregeln zu können, die sich sonst über dem Gesetz wähnten, war definitiv einer davon.
Es war kurz nach acht und noch kaum hell, als sie Hereford erreichte und im Zentrum in einer ruhigen Straße in derNähe von Maitland parkte. Als sie die Klingel vom ersten Stock drückte, blieb eine Reaktion aus. Auch aus dem Fenster drang kein Licht. Vor die Wahl gestellt, entweder im Starbucks ein paar Meter weiter die Zeit totzuschlagen oder in die Kathedrale gegenüber zu gehen, schlug Jenny den Mantelkragen hoch und überquerte die Straße.
Im weiten, hallenden Innenraum probte gerade ein Chor. Es roch nach Weihrauch, kaltem Stein und polierter Eiche. Große Eisenöfen spendeten eine unerwartete, aber willkommene Wärme. Jenny schlenderte durch das Hauptschiff und anschließend durch die Seitenschiffe. Dann ließ sie sich in der Marienkapelle in einer der Stuhlreihen nieder, mit Blick auf den Altar, auf dem das Ewige Licht flackerte und das Allerheiligste behütete.
Inmitten der Ruhe erinnerte sie sich an Mrs. Jamal. Sie sah den Schmerz in ihrem Gesicht, als sie von ihrem Sohn erzählte. Ihre letzten Gedanken waren bestimmt gewesen, dass sie beide bald wieder vereint sein und sich an dem Ort wiedersehen würden, wohin auch immer die Seelen der Toten verschwanden. Das war eine tröstliche Vorstellung, aber keine, die Jenny überzeugte. Das Gebäude, in dem sie sich befand, war mindestens so sehr aus der Angst der Gläubigen vor Hölle und Verdammnis entstanden wie aus der Liebe zu Gott. Sie betete selten, und dann auch nur aus Verzweiflung oder Selbstmitleid. Doch jetzt fühlte sie sich zutiefst bewegt, also sprach sie ein Gebet für die Seelen von Amira und Nazim und Rafi. Die Worte flogen ihr aus dem Nichts zu: »Bitte, Gott, lass sie nicht verloren sein.«
Der Empfang war elegant und teuer eingerichtet, mit geschmackvollen Originalen und cremefarbenen Ledersofas. So etwas gehörte eigentlich nach London, nicht in die ländliche Provinz. Die Dame an der Rezeption war nicht älter alsfünfundzwanzig und hübsch. Sie sprach gebildet und ohne jeden lokalen Akzent.
»Womit kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie.
Obwohl sie ihr elegantestes Kostüm und ihren besten Mantel angezogen hatte, fühlte Jenny sich plump neben der jungen Frau. Sie reichte ihr eine Visitenkarte hinüber. »Jenny Cooper, Coroner des Severn Vale District. Ist Colonel Maitland da? Ich würde gerne mit ihm sprechen.«
»Nein«, sagte die Frau, die Gefahr im Verzug sah, »er ist heute nicht im Büro, tut mir leid.«
»Morgen?«
»Ich denke, morgen könnte er wieder zurück sein.« Die zweite Lüge wirkte schon nicht mehr so selbstsicher.
Jenny griff in
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