Totenstätte
ehrlich sind, Alec«, bat Jenny. »Schwören Sie, dass Sie mich nicht benutzen oder von irgendjemandem bestochen werden.«
»Was könnte ich wohl sagen, damit Sie mir glauben? Ich bin hierhergekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass Sie nicht alleine sind, das ist alles.« Er hielt ihrem Blick stand, was ihn seine gesamte Kraft zu kosten schien. »Ich weiß, dass ich Ihnen ziemliche Angst einjage, aber falls es für Sie ein Trost ist: Das beruht auf Gegenseitigkeit.«
Er stand auf und ging zur Tür.
»Sie wollen doch jetzt nicht gehen?«, fragte Jenny.
»Das sollte ich aber, denken Sie nicht?«
»Soll ich Sie fahren?«
»Ich schaffe das schon.« Er griff nach der Klinke, dann hielt er inne. Einen Moment lang dachte Jenny, er würde sich umdrehen und zurückkommen, um die unerträglicheSpannung zwischen ihnen zu lösen und die unterdrückten Gefühle explodieren zu lassen.
Ohne sie noch einmal anzusehen, sagte er: »Wenn dieser Fall vorbei ist, darf ich Sie dann wiedersehen?«
»Ja … Ja, das sollten wir so machen.«
»Gute Nacht, Jenny.« Und mit der Andeutung eines Lächelns: »Wir sehen uns dann vor Gericht.«
McAvoy ging allein hinaus und schloss sanft die Tür hinter sich.
Sie zog die Gardine ein Stück zur Seite und sah, wie er den Weg hinunterschritt. Noch lange nachdem er verschwunden war, stand sie an derselben Stelle und wünschte sich, er möge zurückkommen, obwohl sie wusste, dass ihr Wunsch vergebens war.
Es galt, die Post zu sortieren, Essen zu kochen und Nachrichten abzuhören. Steve hatte eine dringende Bitte hinterlassen, sie möge ihn doch anrufen, er müsse ihr etwas sagen, doch sie konnte nur an McAvoy denken. Er hatte sich mit einem Versprechen verabschiedet, aber gleichzeitig auch ein schmerzendes Gefühl der Unvollständigkeit in ihr hinterlassen. Es war, als hätte er sie besucht, um ein Geständnis abzulegen, und dann doch einen Rückzieher gemacht. Die Atmosphäre im Cottage war erfüllt davon: Es gab etwas, das McAvoy ihr noch erzählen musste, etwas, das sein Gewissen belastete. Sie wusste es.
Jenny wachte so abrupt auf, als hätte ihr jemand in die Rippen getreten. Sie konnte sich nicht mehr an den Traum erinnern, nur das Gefühl, von einem bedrohlichen Geräusch aufgeschreckt worden zu sein. Sie bildete sich ein, draußen auf den Steinplatten Schritte zu hören, den Atem eines Mannes. Über zwanzig Minuten lag sie da und zuckte bei jedem Knarren und Ächzen des alten Hauses zusammen, aber wasfür ein Gespenst sie auch immer gestört hatte, es hatte sich wieder in sein Versteck verzogen. Nichts rührte sich, nur der Wind rauschte leise. Als ihre Lider schwer wurden, dachte sie an Ross und an David, der jetzt wahrscheinlich tief und fest neben seiner glücklichen schwangeren Freundin schlief, und fragte sich, was sie getan hatte, um so einsam und allein zu sein. Tatsächlich würde ich sogar so weit gehen zu sagen, dass Sie alles tun würden, um niemanden zu verletzen. Das hatte Dr. Allen gesagt, aber am selben Tag hatte sie einen Kugelschreiber in McAvoys Schulter gerammt … McAvoy. Wenn sie ihn anschaute, war es, als würde sie in einen Spiegel sehen, aus dem ihre eigenen finsteren Abgründe zurückblickten. Das war es, das war der Reiz des Ganzen: Wenn sie McAvoy begreifen würde, würde sie endlich auch sich selbst begreifen.
22
N och vor sechs Uhr wachte Jenny mit einem Gefühl großer Dringlichkeit auf. In vierundzwanzig Stunden würde die Anhörung beginnen, und davor mussten noch wichtige Entscheidungen getroffen werden. Unter der Dusche bekam sie plötzlich Gewissensbisse wegen des fast vertraulichen Moments, den sie mit McAvoy verbracht hatte. Die Gedanken an ihn verdrängten jeden Gedanken an ihren Sohn. Was war sie nur für eine Mutter? Sofort verspürte sie die Symptome aufkommender Angst – kribbelnde Fingerspitzen, Herzklopfen – und lief schnell, nur in ein Handtuch gewickelt, in die eiskalte Küche hinab. Mit dem Rest aus einer alten Orangensaftpackung nahm sie zwei Tabletten. Sie fühlte sich wie eine Süchtige, als sie sich zwang, die saure Flüssigkeit herunterzuschlucken. Die neuen Medikamente schienen Wunder zu wirken: Kaum hatte sie sich abgetrocknet und angezogen, fühlte sie sich einsatzbereit. Auf Mrs. Jenny Cooper, den Coroner, warteten wichtige Aufgaben.
An ihrem Schreibtisch im Arbeitszimmer aß sie eine Schale altes Müsli und suchte nach der Website von Maitland. Sie fand die Adresse im Online-Telefonverzeichnis, klickte sie an und stieß auf
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