Totenstätte
wie sie das Gespräch beenden sollte.
»Ich werde manchmal leicht wütend, aber wir wissen doch beide, dass ich ohne Sie nicht weit kommen würde.« Jenny lächelte versuchsweise.
Alisons Kiefer blieb angespannt.
»Ich habe mich in der Harry-Marshall-Sache lächerlich gemacht«, sagte Alison in Anspielung auf ihren ehemaligen Vorgesetzten, Jennys Vorgänger. »Mit David ist das anders. Nicht dass irgendetwas Verbotenes zwischen uns wäre«, fügte sie schnell hinzu, »aber ich habe gesehen, wie er ein paar der schlimmsten Dinge durchgemacht hat, die man sich überhaupt vorstellen kann. Er ist kein Lügner, Mrs. Cooper. Er tut nur seine Pflicht.«
»Das respektiere ich. Die Pflichten eines Coroners sind allerdings andere als die eines Polizisten. Niemand scheint sich das klarzumachen, aber meine Aufgabe ist es, die Wahrheit zu finden, und zwar egal wem das gegen den Strich gehen mag. Bis nicht der Lordkanzler zum Telefonhörer greift und mir mitteilt, dass ich gefeuert bin, muss ich weitersuchen.«
Alison nickte wenig überzeugt. In ihrem tiefsten Innern war sie immer noch Polizistin, juristische Finessen und hehre Ideale waren nichts für sie. Sie zog es lieber vor, zu einer mächtigen Gruppe wie etwa der Polizei zu gehören, und hatte Angst, wenn sie auf sich allein gestellt war. Andererseits sorgte sie dafür, dass Jenny mit den Füßen am Boden blieb, und das war auch der Grund dafür, dass die Zusammenarbeit bereits acht turbulente Monate überstanden hatte. Jenny brauchte Alison mittlerweile wie ein Baum seine Wurzeln.
»Sie haben eine Nachricht von dieser Frau vom MI5«, sagte Alison. »Sie bittet um Rückruf. Vermutlich geht es um den Bericht von der Gesundheitsbehörde. Der kam gestern Abend.« Sie reichte Jenny einen Ausdruck mit der Überschrift »Radiologisches Gutachten«, daneben prangte der Stempel »Streng vertraulich«.
Jenny blätterte zu den letzten Absätzen.
Die Cäsium-137-Teilchen, die in der Wohnung gefunden wurden, konzentrierten sich vor allem im Gewebe eines Sessels. Verschiedene Partikel fanden sich auch im öffentlichen Teil des Gebäudes und auf der Haut der Verstorbenen, Mrs. Amira Jamal, vor allem im Lendenbereich und am Gesäß. Mit gutem Recht kann angenommen werden, dass die Verstorbene kurz vor ihrem Tod durch Kontakt mit dem Sessel kontaminiert wurde. Es ist allerdings unmöglich zu bestimmen, wie lange die Partikel an dem Sessel oder in dem Gebäude bereits vorhanden waren. Die äußeren Umstände legen nahe, dass die Kontamination erst kurz zuvor erfolgt war. Weder in Mrs. Jamals Staubsauger noch in dem des Hausmeisters haben sich Partikelspuren gefunden. Vermutlich kann man davon ausgehen, dass die Kontamination in den Tagen unmittelbar vor Mrs. Jamals Ableben stattgefunden hat.
»Die Polizei hat nicht die geringste Spur, falls Sie das beruhigt«, sagte Alison. »Man vermutet, dass es jemand war, der mit ihrem Sohn zu tun hatte. Manche denken sogar, dass er selbst aus der Versenkung aufgetaucht und dafür verantwortlich ist. Es geistern alle möglichen wilden Theorien herum.«
»An einem Sessel? Es scheint, als hätte dort jemand gesessen, der selbst schon kontaminiert war«, sagte Jenny.
»Stellen Sie sich mal vor, es war Nazim«, sagte Alison. »Das wäre ein Schock für sie gewesen – als ob er von den Toten auferstanden wäre.«
Jenny schüttelte den Kopf. »Nein. Das ergibt keinen Sinn.«
»Warum nicht? Es existieren keinerlei Beweise dafür, dass er tot ist. Wir haben nur zwei widersprüchliche Augenzeugenberichte, denen zufolge er höchst lebendig in zwei verschiedene Richtungen unterwegs war. Vielleicht ist er zurückgekommen, um seine Mutter zum Schweigen zu bringen. Diese Gotteskämpfer scheren sich nicht um ein einzelnes Leben. Wenn sie den Märtyrertod sterben, bekommen sie gemeinsam mit siebzig Verwandten freien Eintritt ins Paradies.«
Jenny vermutete, dass Alison sich in die Abgründe des Polizeikantinengeschwätzes gestürzt hatte. Und wie immer hatten die Beamten Theorien entwickelt, die sämtliche Vorurteile bestätigten. Ein rundum indopakistanischer Fall mit abschließendem Muttermord würde die Polizei reinwaschen. Es gäbe keinen Grund, sich schuldig zu fühlen, weil man vor den Geheimdiensten gekuscht und zugesehen hatte, wie sich zwei junge Männer in Luft auflösten.
»Haben Sie irgendjemandem gegenüber Madogs Aussage erwähnt?«, fragte Jenny.
»Natürlich nicht, Mrs. Cooper«, sagte Alison beleidigt. »Ich unterhalte mich zwar mit
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