Totenstätte
Einbildung – was man zu wollen glaubt.«
Alison hatte sie durchschaut. Sie hatte recht, es war nur eine Einbildung. So wie Alison davon geträumt hatte, dass Harry sie in eine freundlichere, schönere Welt entführen würde, hatte Jenny in McAvoy, der schon so viel Schreckliches erlebt hatte, den Mann gesehen, der mit einem Streich all ihre Gespenster vertreiben würde.
Sie belog sich und Alison gleichermaßen, als sie erwiderte: »Keine Sorge, ich könnte für ihn nie etwas empfinden. Der Mann ist ein Wrack.«
Alison lächelte schwach, nur halbwegs beruhigt. »Freut mich, das zu hören.«
Jenny überließ Alison ihrer Arbeit, nachdem sie sie angewiesen hatte, noch einmal die Zeugen zu kontrollieren, die ordnungsgemäße Anreise der Jurymitglieder sicherzustellen und die unzähligen Aufgaben zu erledigen, für die bei jedem anderen Gerichtsverfahren eine ganze Batterie an Mitarbeitern zur Verfügung stand. Als sie allein in ihrem Büro war, rief sie Gillian Golder an.
»Jenny, endlich. Ich habe mich schon gefragt, ob Sie jetzt auch noch verschwunden sind.« Der Scherz misslang.
»Sie werden doch bestimmt mit Simon Moreton gesprochen haben«, erwiderte Jenny. »Ich habe ihm alles gesagt, was ich weiß, und das ist nicht viel.«
»Darin liegt auch schon das Problem«, sagte Golder. »Wir tappen im Dunkeln und wissen nicht, was uns am Ende des Tunnels erwartet.«
Jenny gefiel das wir nicht. Es klang bedrohlich.
Sie nahm eine von Golders Befürchtungen vorweg. »Wenn Sie denken, dass meine Untersuchung den Ermittlungen zum Tod von Mrs. Jamal in die Quere kommt, kann ich Sie beruhigen. Mich interessiert einzig und allein, was vor acht Jahren passiert ist.«
»Können wir denn sicher sein, dass die beiden Ereignisse vollkommen unabhängig voneinander sind?«
»Ich habe keine Gründe, die Anhörung noch einmal zu verschieben, Miss Golder. Ihre Organisation und die Polizei haben die Ermittlungen vor vielen Jahren abgeschlossen.«
»Lassen Sie uns doch für einen Moment realistisch sein, Jenny. Mein Dienst und die Polizei suchen verzweifelt nach der Quelle des radioaktiven Materials, das sich in illegalem Besitz befinden muss. Und einer der Hauptverdächtigen ist Gegenstand Ihrer Untersuchung.«
»Haben Sie Beweise dafür, dass Nazim lebt?«
»In jedem Fall sollten wir die Sache so lange aus der Presse heraushalten, bis wir den Hurensohn, den wir suchen, gefunden haben. Selbst wenn man Mrs. Jamal nicht erwähnt, werden sich die Medien auf den Fall stürzen. Und wenn es etwas gibt, das Nazim oder denjenigen, der dafür verantwortlich ist, alarmieren könnte, dann das Interesse der Öffentlichkeit.«
»Das sehe ich nicht so«, sagte Jenny. »Ich höre nur, dassSie sich vor einer Bloßstellung schützen wollen. Schließlich waren es Ihre Dienste, die die Spur nicht weiterverfolgt haben. Damals mag es Ihren Zwecken gedient haben – der Kriegspropaganda Vorschub zu leisten und was weiß ich nicht alles –, aber ich würde mein Amt nicht verdienen, würde ich mich davon beeinflussen lassen.«
Gillian Golders Stimme war jetzt eisig. »Glauben Sie mir, wir sind nicht so unvernünftig, wie Sie denken. Wenn wir es wirklich wollten, würden wir einen Weg finden, Ihre Untersuchung zu unterbinden. Vielleicht können wir uns stattdessen auf einen vernünftigen Kompromiss einigen.«
Golder machte eine Pause, wartete darauf, dass Jenny bereitwillig in ihre Falle ging. Doch Jenny schwieg.
»Unser Vorschlag lautet folgendermaßen: Abschnitt siebzehn des Gesetzbuchs für den Coroner ermöglicht es ihm, seine Untersuchung unter Ausschluss der Öffentlichkeit abzuhalten, wenn dies im Interesse der nationalen Sicherheit ist. Ich habe keine Ahnung, was für Aussagen die Befragten machen werden, aber Nazim Jamal und Rafi Hassan wurden extremistischer Neigungen verdächtigt. Mrs. Jamal wiederum ist unter Umständen gestorben, die nahelegen, dass sie mit einer Substanz in Berührung gekommen ist, die für Terroristen extrem interessant ist. Wir halten es daher für angezeigt, wenn nicht gar für unumgänglich, dass die Anhörung nicht öffentlich stattfindet.«
»Ich weiß, warum Ihnen das lieb wäre«, sagte Jenny. »Allerdings scheinen Sie mir dabei ein paar grundlegende Prinzipien der Gerechtigkeit zu vergessen.«
»Lassen Sie es mich so sagen«, erklärte Golder. »Wir haben unsere Rechtsanwälte eingeschaltet. Sie stehen bereit, noch heute Nachmittag beim High Court eine gerichtliche Verfügung zu erwirken, damit
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