Totenstätte
sichergestellt ist, dass Abschnitt siebzehn korrekt angewendet wird.«
Jenny fühlte sich der geballten Macht des Justizapparats gegenüber. Es bestand kein Zweifel mehr daran, dass Golder es ernst meinte. Die Regierungsanwälte würden einen sorgsam ausgewählten Richter darauf hinweisen, dass Beweise in einer äußerst sensiblen Angelegenheit, deren Tragweite ein provinzieller Coroner nicht ermessen konnte, eine Bedrohung der nationalen Sicherheit darstellten. Der Richter, der geheime Anhörungen aus dem Umkreis der Terrorbekämpfung längst kannte und sich auch schon an die Umgehung einst unverletzlicher Freiheitsrechte – wie etwa das Recht auf Aussageverweigerung und das Recht eines Strafgefangenen, die gegen ihn vorliegenden Beweise zu kennen – gewöhnt hatte, würde keinerlei Probleme damit haben, einen Coroner mundtot zu machen. Jenny könnte kämpfen, wie sie wollte, sie würde diese Schlacht nicht gewinnen. Sie könnte sich an Simon Moreton im Justizministerium wenden, aber selbst wenn sie ihn dazu bewegen würde, in ihrem Namen Protest einzulegen, würden ihn seine Vorgesetzten einfach ignorieren. Sie konnte nur retten, was zu retten war.
Ein letztes Mal versuchte sie ihr Glück. »Es wäre nicht nötig, die Öffentlichkeit auszuschließen, wenn ich der Berichterstattung gewisse Beschränkungen auferlegen würde.«
»Vor den Zeiten des Internets hätte das vielleicht etwas genützt, jetzt reicht das leider nicht mehr aus«, sagte Golder. »Aber wir können den nächsten Familienangehörigen unter der Auflage die Teilnahme erlauben, dass sie nichts von dem, was sie zu hören bekommen, nach außen tragen.«
»Ich könnte Sie zur Hölle schicken.«
»Das könnten Sie tun. Helfen würde das allerdings auch niemandem, oder?«
23
Z achariah Jamal war ein würdevoller Mann von Mitte fünfzig, der seinem Sohn auf unheimliche Weise ähnelte. Er war attraktiv und hatte dieselben feinen Gesichtszüge und dasselbe tiefschwarze Haar. Jenny begriff sofort, warum er sich von seiner verstorbenen Exfrau getrennt hatte. So beherrscht und gelassen, wie er wirkte, schien ihm emotionaler Überschwang vollkommen fremd zu sein. Er hatte allein am Ende einer der drei Reihen hinter den Rechtsanwälten Platz genommen, wo in der vergangenen Woche die sensationslüsternen Journalisten und die militanten Mitglieder der British Society for Islamic Change gesessen hatten.
Sofort nach ihrem Gespräch mit Gillian Golder hatte Jenny Kontakt zu ihm aufgenommen und ihn über die neuesten Entwicklungen informiert. Sie hatte ihn gefragt, ob sie den Antrag ablehnen und für eine öffentliche Anhörung kämpfen solle. Seine Antwort war ein unmissverständliches Nein gewesen. Er hatte so distanziert geklungen, dass Jenny nicht erwartet hatte, ihn überhaupt zu sehen. Alison zufolge hatte er allerdings schon vor dem Saal gewartet, als sie kurz nach acht eingetroffen war. Jenny wurde klar, dass sie sich am Telefon ein falsches Bild von ihm gemacht hatte. Das Leid hinter seiner stoischen Maske war mit Händen greifbar. Da er eine zweite Familie gegründet hatte, war ihm bisher wenig Gelegenheit gegeben worden, um seinen erstgeborenen Sohn zu trauern. Das hier war seine Chance.
Höflichkeitshalber hatte sie auch Mr. und Mrs Hassan angerufen, um ihnen mitzuteilen, dass sie an der Anhörung teilnehmen durften. Mr. Hassan hatte schlicht erklärt, sie würden nicht kommen, mochten nun Journalisten anwesend sein oder nicht. Seine Stimme hatte nach kaum verhohlenem Ärger geklungen, den Jenny als Schuldbewusstsein interpretierte. Mr. Hassan machte sich für das Schicksal seines Sohnes verantwortlich. Hätte er sich in den Weihnachtsferien damals nicht mit ihm gestritten, wäre er aufmerksamer gewesen … Jenny war sich sicher, dass er und seine Frau gerne gekommen wären, es aber selbst nach acht Jahren einfach nicht übers Herz brachten.
Sie saß am Kopfende der großen Mehrzweckhalle, in der sonst eher Tanzveranstaltungen und Gartenausstellungen stattfanden, und spürte eine unerträgliche Verantwortung auf sich lasten.
Der Morgen hatte schon turbulent begonnen. Als Jenny eingetroffen war, hatte sie mehr als ein Dutzend uniformierter Polizisten vor dem Eingang stehen sehen. Der Einsatzleiter teilte ihr mit, dass er den Auftrag habe, Journalisten und Besuchern den Zutritt zu verwehren. Jenny stritt gerade mit ihm, als plötzlich mehrere Kleinbusse mit BRISIC-Sympathisanten vorfuhren und es zu unschönen Szenen kam. Unter den Augen der
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