Totenstätte
entgeisterten Anwohner riefen sie Namen und Parolen und prügelten schließlich auf die Polizisten ein, die sich mit Schlagstöcken und Pfefferspray wehrten. Zeitweise erblindet und vor Panik schreiend wurden etliche Demonstranten festgenommen und fortgeschafft. Der Rest wurde größtenteils vertrieben. Erst als Jenny ihm mit verschiedenen Disziplinarstrafen drohte, willigte der Einsatzleiter ein, das verbliebene Häufchen zu dulden, das eine symbolische Mahnwache abhalten wollte.
Als die Stimmung hochgekocht war, hatten sich auch mehrere der Zeugen eingefunden. Von Polizei flankiert hatte Alison sie zu einem Nebeneingang geleitet. Jetzt drängten sie sich in einem kleinen Sitzungsraum, der vom Saal nur durch eine Tür abgetrennt war. Von Maitland und Tathum war nichts zu sehen, aber sonst waren alle, einschließlich McAvoy, der Vorladung gefolgt.
Außer Mr. Jamal war als einziger Beobachter noch Alun Rhys erschienen, Golders Mann vor Ort. Er saß ganz hinten, am Ende einer Stuhlreihe. Jenny hätte ihn wegschicken können – die Anhörung fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, also war er rein rechtlich nicht befugt, ihr beizuwohnen –, aber ihr Gefühl sagte ihr, dass sie ihn dulden sollte. An seiner Miene würde sie Überraschung, Entsetzen oder möglicherweise sogar Anerkennung ablesen können.
Äußerst dankbar für Dr. Allens neue Medikamente, die ihre Angst in Schach hielten, wandte sie sich den Rechtsanwälten zu. Yusuf Khan, der Solicitor der BRISIC, war kaum zu bremsen.
»Ma’am, ich protestiere entschieden gegen Ihre Entscheidung, die Anhörung unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden zu lassen. Das Gesetz sagt klar und deutlich, dass die Anhörungen eines Coroners öffentlich sein sollen, es sei denn, die nationale Sicherheit ist in Gefahr. Die Leute, die ich vertrete, können daraus nur schließen, dass sie es sind, deren Teilnahme Sie verhindern möchten.«
»Keineswegs, Mr. Khan«, unterbrach ihn Jenny. »Ich gehe selbstverständlich davon aus, dass Sie die Auflagen zur Geheimhaltung respektieren werden, daher kann ich Ihnen im Vertrauen mitteilen, dass ich mit meiner Entscheidung einer Bitte der Geheimdienste entspreche.« Sie schaute zu Rhys hinüber. »Was diese befürchten und welche Aussagen ihrer Erwartung nach die Sicherheit des Landes gefährdenkönnten, haben sie nicht für nötig befunden mir mitzuteilen. Dennoch habe ich entschieden, dass es besser ist, unter diesen Bedingungen mit der Anhörung fortzufahren, als sie ganz aussetzen zu müssen.«
»Aber das ist doch absurd«, sagte Khan. »Einem Coroner darf niemand Bedingungen diktieren. Dies ist ein unabhängiges Gericht, kein politisches Tribunal.«
»Da wir unter Ausschluss der Öffentlichkeit reden, kann ich aufrichtig bekennen, dass ich vollkommen Ihrer Meinung bin.«
Rhys’ Gesicht verzog sich missbilligend.
»Ich bin mehr als einverstanden, wenn Sie Ihren Protest von den Dächern schreien«, ergänzte Jenny, »aber wenn ich Ihre Anhänger jetzt hereinlasse, kann ich Ihnen garantieren, dass die Anhörung nicht fortgesetzt wird. Es geht hier nicht darum, was einer von uns beiden für richtig oder gerecht hält, daher würde ich vorschlagen, dass Sie sich Ihre Kräfte für die Zeugen aufsparen.«
Keineswegs beruhigt stieß Khan einen Finger in die Luft. »Eins kann ich Ihnen jetzt schon sagen: Meine Klienten werden durch alle Instanzen gehen und nichts unversucht lassen, damit die Protokolle der Anhörung der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Eine Gerechtigkeit, die im Stillen betrieben wird, ist keine Gerechtigkeit.«
Die beiden Barrister, Fraser Havilland für den Polizeipräsidenten und Martha Denton für den Präsidenten der Geheimdienste, wirkten gelangweilt und unbeeindruckt von Khans Auftritt. Trevor Collins, der bescheidene Solicitor, der Mrs. Jamals Nachlass verwaltete, war der einzige Anwalt, der zustimmend nickte.
»Danke, Mr. Khan«, sagte Jenny. Sie schaute zu Alun Rhys hinüber und fuhr fort: »Ich bin mir sicher, dass Ihrem Wunsch nach Öffentlichkeit stattgegeben wird, wennnichts zur Sprache kommt, das die nationale Sicherheit gefährdet.«
Rhys’ Miene war undurchdringlich, trotzdem kam er Jenny merkwürdig kraftlos vor – ein bloßer Beobachter, der keinerlei Sanktionen mehr verhängen konnte.
Sie wandte sich an die Jury und dankte ihr für die Geduld in der vergangenen Woche. Damit Rhys und die Anwälte nicht schon erahnen konnten, was sie zu hören bekommen sollten,
Weitere Kostenlose Bücher