Totenstätte
erklärte sie in unbestimmten Worten, dass die Verschiebung notwendig geworden war, um weitere Ermittlungen anzustellen. Als Ergebnis würden zusätzliche Zeugen zu Wort kommen. Die Jurymitglieder waren unbeeindruckt. Ungeduldig schauten sie Jenny an.
Als sie Alison bat, den ersten Zeugen hereinzuholen, erhob sich plötzlich Fraser Havilland.
»Ma’am, bevor wir zur Befragung schreiten, möchten meine verehrte Kollegin Miss Denton und ich darum bitten, dass Sie uns eine Liste der Zeugen zur Verfügung stellen. Außerdem, wenn ich das vorzuschlagen wagen darf, hätten wir auch gerne Kopien ihrer Aussagen. In der Anhörung eines Coroners sind das heutzutage ja eigentlich die üblichen Gepflogenheiten.«
Martha Denton, die neben Havilland saß, starrte Jenny an.
Doch diese war sich ihrer Sache sicher. »Übliche Gepflogenheiten zweifellos, Mr. Havilland, aber keine Pflicht. Ich schlage vor, dass Sie einen Blick in R. v. H.M. Coroner for Lincolnshire ex parte Hay von 1999 werfen. Die Zurückhaltung von Dokumenten und sogar von Zeugenaussagen liegt im Ermessen des Coroners.« Sie wandte sich an die Jury. »Die Anhörung eines Coroners ist kein Gerichtsverfahren, sie ist eine Untersuchung im Namen der Krone. Die Rechtsanwälte, welche die beteiligten Personen vertreten, nehmenlediglich an der Versammlung teil und dürfen Fragen stellen. Sie können nicht verlangen, mit irgendwelchen Dokumenten versorgt zu werden.«
»Bei allem Respekt, Ma’am«, beharrte Havilland. »Im Fall Bentley im Jahr 2003 wurde noch einmal hervorgehoben, dass ein Coroner unbedingt Zeugenlisten zur Verfügung stellen sollte, besonders in komplizierten Fällen.«
»Sie geben sich nicht leicht zufrieden, Mr. Havilland, nicht wahr? Wir tagen hier unter Ausschluss der Öffentlichkeit, aber Ihre und Miss Dentons Klienten möchten in aller Genauigkeit wissen, welche Aussagen in diesem Raum gemacht werden? Ich denke, Sie hätten sich vorher Gedanken darüber machen sollen, was von beidem Ihnen wichtiger ist.«
Ein paar Jurymitglieder lächelten.
»Es sind die üblichen Gepflogenheiten, Ma’am«, beharrte Havilland säuerlich.
»Ich bin immer für Bitten zugänglich, aber kein leichtes Opfer, Mr. Havilland«, sagte Jenny und spürte, wie sich Ärger in ihr regte. Sie bemühte sich, ihn herunterzuschlucken. »Sie bekommen, worauf Sie ein Recht haben, aber nicht mehr.«
Havilland wollte zurückschlagen, doch sein Solicitor zog ihn am Ärmel und flüsterte ihm etwas zu. »Sehr wohl, Ma’am«, sagte er dann und nahm wieder Platz.
Martha Denton saß weiterhin mit versteinerter Miene da. Sie musterte Jennys Gesicht, suchte nach Schwachstellen, wartete auf den richtigen Augenblick, um zuzuschlagen.
Elizabeth Murray kam als erste Zeugin aus dem Sitzungsraum und schritt zum Zeugenstand. Sie setzte sich links von Jenny an den kleinen Tisch. Die Sechsundachtzigjährige war von krummer Statur und wirkte gebrechlich, ging aber entschlossen und ohne fremde Hilfe. In ihrem adretten marineblauen Kostüm und mit frisch frisierten Haaren war sie fest entschlossen, ihren Moment im Rampenlicht zu genießen. Den Eid las sie klar und feierlich. Niemand zweifelte, dass sie die Wahrheit zu sagen beabsichtigte.
»Mrs. Murray«, sagte Jenny, »gibt es besondere Gründe, warum Sie sich an die Nacht vom 28. Juni 2002 erinnern können?«
»Die gibt es«, sagte sie entschieden. »Ein großer schwarzer Wagen parkte den ganzen Abend vor meinem Haus. Mit zwei Männern auf den vorderen Sitzen. Je länger sie dort standen, desto misstrauischer wurde ich. Gegen halb elf beschloss ich dann, die Polizei anzurufen. Ich hatte gerade den Hörer abgenommen, da hörte ich den Motor anspringen. Als ich zum Fenster ging, sah ich sie noch wegfahren.«
»Können Sie sich an das Auto erinnern?«
»Ein Minivan. So nennt man das, glaube ich.«
»Und haben Sie die Polizei trotzdem noch angerufen?«
»Nein. Ich dachte, es sei nicht mehr wichtig genug, um sie damit zu behelligen.«
»Aber später im selben Jahr bekamen Sie Besuch?«, gab Jenny ihr das Stichwort.
»Das ist richtig. Im Dezember, wenn ich mich recht entsinne, klopfte ein Mann an meine Tür. Er sagte, er komme im Auftrag der Familie eines jungen Mannes, der zuletzt gesehen wurde, als er ein Gebäude in meiner Straße verließ. Er selbst werde nun von Haus zu Haus gehen, um Zeugen zu finden. Ich habe ihm von dem Auto erzählt.«
»Sie haben sich an das genaue Datum erinnert, obwohl bereits sechs Monate vergangen
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