Totenstätte
Mal um den Block.«
Jenny überflog die Anfragen und wunderte sich laut, dass es unglaublich sei, wie viele vermeintlich gut situierte junge Leute einfach aus ihrem Leben verschwanden. Wo blieben sie nur alle? Alison versicherte ihr, dass es jedes Jahr Hunderte, wenn nicht gar Tausende von solchen Fällen gab. Meist handelte es sich dabei um Personen, die einen psychischen Zusammenbruch erlitten hatten oder vor Schulden oder schlechten Beziehungen flohen. Die gute Nachricht war, dass bis auf einen geringen Bruchteil alle irgendwann wieder auftauchten.
Jenny reichte Alison einen Brief, den sie an den Polizeipräsidenten von Bristol und Avon geschrieben hatte. Sie forderte ihn auf, ihr den Zugang zu den Akten über den Fall der verschwundenen Jungen und über die Observation der Al-Rahma-Moschee und der halaqah in der Marlowes Road zu gewähren.
Alison verzog das Gesicht. »Sie verschwenden Ihre Zeit, Mrs. Cooper. Die haben die Akten nicht mehr da.«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich habe gestern Abend mit Dave Pironi gesprochen. Am Nachmittag sind ein paar offizielle Typen mit einem ministeriellen Schreiben gekommen und haben alles mit nach London genommen.«
»Und wer waren diese Leute?«
»Das konnte er mir nicht sagen.«
»Aber er muss doch irgendeine Vermutung haben.«
Alison hielt sich bedeckt. »Ich hatte nicht den Eindruck, dass sie von der Polizei waren.«
»Dann vom MI5.« Jenny ging ins Internet und begann, nach einer Telefonnummer zu suchen.
Alison stand im Türrahmen und beobachtete sie.
»Was ist?«, fragte Jenny.
»Ich würde so etwas normalerweise nie sagen, Mrs. Cooper, aber Dave denkt, dass Sie sich nicht mit der Sache beschäftigen sollten.«
»Ach ja?« Sie hatte die Nummer von der Zentrale des MI5 gefunden und notierte sie. »Hat er etwas zu verbergen?«
»Nein, nichts. Es ist nur so, dass die Polizei mehr oder weniger umgangen wurde, nachdem die beiden verschwunden waren. Die Leute, die das Ganze überblicken – falls das überhaupt jemand kann –, stehen so weit oben in der Hierarchie, dass es witzlos wäre, sich auch nur auf die Suche nach ihnen zu machen. Insofern werden Sie mit Ihrer Untersuchung nichts erreichen, als sich Ärger einzuhandeln.«
»Das hat er Ihnen gesagt?«
»Nicht so ausführlich. Aber wenn er meint, dass Sie sich nicht mit der Sache beschäftigen sollen, dann wird er schon seine Gründe dafür haben.«
»Vielleicht hat er ja Lust, mir die Gründe in meiner Anhörung mitzuteilen.«
Alison seufzte resigniert. »Ich kann Ihnen versichern, dass niemand übermäßiges Mitleid mit den beiden Jungen hatte, aber selbst bei der Kripo war man mit dem Ausgang der Ermittlungen nicht glücklich. Ich weiß, dass Sie Polizisten für verkappte Rassisten halten, aber es waren damals umfangreiche Ermittlungen im Gange. Nach allem, was man zu der Zeit wusste, hätten sich die Burschen in einer Wohnung versteckt halten können, um sich Bomben um denLeib zu schnallen. Man durfte nicht einmal Fotos …« Sie brach mitten im Satz ab, als sie merkte, dass sie zu viel erzählt hatte.
»Man durfte nicht einmal Fotos was?«
»Egal. Das war nur Kantinengeschwätz.«
»Wollen Sie mir mitteilen, dass Pironis Leute die Anweisung hatten, keine Ermittlungen anzustellen, wie sie normalerweise vermissten Personen zugutekommen?«
»Das hat er nicht behauptet.«
»Vielleicht sollten Sie in meiner Anhörung aussagen. Was hat man denn sonst noch so in der Kantine erzählt?«
»Ich wünschte, ich hätte nichts gesagt. Man wird Ihnen sowieso nicht die Genehmigung zu dieser Untersuchung erteilen.«
Jenny schaute von ihrem Bildschirm auf und spürte, dass Alison kurz davor war, panisch zu werden. »Pironi hat Sie gebeten, mich von dieser Sache abzubringen, nicht wahr?«
»Um so etwas würde er mich nie bitten. Aber wir wissen doch alle, dass die Schuldzuweisungen immer Leute auf den unteren Hierarchieebenen treffen. Dave hat nur noch wenige Jahre bis zu seiner Pensionierung. Die Behandlung seiner Frau hat er aus eigener Tasche bezahlt, und er braucht seine Rente. Wenn Sie sich unbedingt in die Sache reinhängen wollen, bitte ich Sie wenigstens, mir zu glauben. Er hätte niemals irgendetwas Schlechtes getan.«
Anscheinend neigte Alison dazu, bestimmte Männer, zu denen ihr Ehemann allerdings nicht zählte, auf ein Podest zu stellen. Harry Marshall, der ehemalige Coroner, der jetzt schon acht Monate tot war, hatte auch zu ihnen gehört. Jenny hegte keinerlei Zweifel, dass Dave Pironi ein
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