Totenstätte
ein Radikaler gewesen war, vielleicht sogar ein Fanatiker. Trotzdem konnte sie sich kaum vorstellen, dass man es einer muslimischen Mutter nicht auf irgendeine Weise mitteilen würde, wenn ihr Sohn sich freiwillig gemeldet hätte, um für eine heilige Sache zu kämpfen. Wenn Nazim und Rafi aber nicht fortgegangen waren, um mit den Mujahedin zu kämpfen, wohin konnten sie dann verschwunden sein? Sie waren doch kaum mit der Schule fertig gewesen. Vor Jennys geistigem Auge spielten sich düstere Szenarien ab. Vielleicht waren sie nach London gelockt und gegen ihren Willen in eine Organisation gezwungen worden. Vielleicht waren sie höchst lebendig und hatten sich zu eifernden Fanatikern entwickelt. Oder sie lebten auf der Flucht im Untergrund und hatten eine Heidenangst.
Im Moment war nur eins sicher: Wenn Ali mit ihrem Verschwinden irgendetwas zu tun hatte, dann würden alle, mit denen er in Kontakt stand, längst über sie und ihre Ermittlungen Bescheid wissen. Der gesunde Menschenverstand sagte Jenny, dass sie sich zurückziehen sollte, solange das noch möglich war. Aber jedes Mal, wenn sie einen Rückzug erwog, regte sich in ihrem tiefsten Innern Protest.
Sie kannte das Gefühl. So als hätte sie keine Wahl.
5
U m vom Innenministerium die Erlaubnis zu erhalten, eine gerichtliche Untersuchung zum Tod einer nur mutmaßlich toten und vermissten Person einleiten zu dürfen, musste Jenny die zuständigen Personen davon überzeugen, dass Nazim mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit tatsächlich gestorben war. Streng genommen musste sie sogar Gründe für die Annahme vorlegen, dass sein Tod in ihrem Zuständigkeitsbereich oder zumindest in der Nähe eingetreten war. Da sie das aber unmöglich beweisen konnte, hoffte sie, mit Fällen argumentieren zu können, in denen Leichen aus dem Ausland heimgeflogen worden waren. Sollte Nazims Leiche jemals zurückkehren, würde sie in Jennys Zuständigkeitsbereich fallen. Das war ein schwaches Argument, aber wenn man es genau betrachtete, waren die Gegenargumente noch schwächer. Es lag ganz klar im öffentlichen Interesse zu erfahren, wo die beiden intelligenten jungen Männer abgeblieben waren. Die Verweigerung von Ermittlungen würde nach Vertuschung riechen, und eineinhalb Millionen muslimische Wähler waren eine zu starke Macht, als dass man es riskieren konnte, sie gegen sich aufzubringen.
Stabilisiert von ihrer morgendlichen Kombination aus Betablockern, die ihre körperlichen Angstsymptome in Schach halten sollten, und Antidepressiva, um ihre Stimmung zu regulieren, war Jenny bereit, sich den Herausforderungen zustellen. Den Bericht für das Innenministerium wollte sie so schnell wie möglich schreiben, aber zunächst musste sie die zwei naheliegendsten Schritte unternehmen: Sie musste herausfinden, was über die beiden Jungen an der Universität bekannt gewesen war und was die Polizei noch an Unterlagen zu den damaligen Ermittlungen besaß.
Während sie wie jeden Morgen mit Ross zusammen in die Stadt fuhr, rief sie die Büros der Universität an. Ihr Sohn hatte sich die Kopfhörer vom iPod in die Ohren gestöpselt und hing noch halb schlafend auf dem Beifahrersitz. Jenny landete im Vorzimmer von Professor Rhydian Brightman, dem Vorsitzenden der Fakultät für Physik. Seine nicht allzu entgegenkommende Sekretärin erklärte ihr, dass er die gesamte nächste Woche ausgebucht sei, aber Jenny hielt ruhig dagegen, dass sie in ihrer Funktion als Coroner ermittele und die Weigerung, sie zu unterstützen, mit Gefängnis bestraft werden konnte.
Ross hatte während des Gesprächs aufgesehen und zog nun einen Stöpsel aus dem Ohr, um den Ausgang des Gesprächs mitzubekommen: Für den späten Vormittag wurde ein Treffen vereinbart.
»Wahnsinn«, sagte er. »Kannst du wirklich Leute ins Gefängnis schmeißen?«
»Wenn’s sein muss.«
»Hast du das schon mal getan?«
»Letzten Sommer. Zwei Zeugen eines Verfahrens. Hat einen ganz schönen Aufruhr gegeben.« Sie schaute ihn lächelnd an, aber er wippte schon wieder mit dem Kopf zur Musik.
Alison begrüßte sie mit dem üblichen Stapel Arbeit und ein paar Anfragen von Familien, die eine Tochter vermissten und einen Blick auf die Jane Doe werfen wollten.
»Was ist mit den Laboruntersuchungen der letzten Gruppe? Sollten wir die Ergebnisse nicht erst abwarten?«, fragte Jenny.
»Die dauern mindestens vierzehn Tage. Keine Sorge, ich werde den Termin für später in der Woche ansetzen. Dann reicht die Schlange wahrscheinlich schon ein
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