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Totenstätte

Totenstätte

Titel: Totenstätte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. R. Hall
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perfekter Charmeur sein konnte, aber ihr war auch klar, dass ihre Mitarbeiterin ihre Urteilskraft einbüßte, wenn sie einen Mann attraktiv fand.
    »Ich bin mir sicher, dass Sie recht haben«, sagte Jenny. »Trotzdem wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie den Brief abschicken könnten.« Sie griff nach einem Block und ließ ihn in ihre Aktentasche fallen. »Wir sehen uns dann später. Ich habe einen Termin an der Uni.«
    Rhydian Brightman war ein großer, fahriger Mann mit ewig abwesender Miene. Er mochte höchstens ein, zwei Jahre älter sein als Jenny, aber er hatte nichts Jugendliches mehr an sich. Auf halber Höhe seiner Nase balancierte eine Brille mit dicken Gläsern. Sie trafen sich in einer überfüllten Cafeteria im Erdgeschoss des Physikgebäudes, weil ein Kollege angeblich Brightmans Büro belegte. Der wahre Grund war vermutlich, dass Jennys Anwesenheit ihn nervös machte. Er wirkte auf sie so überspannt wie jemand, der sich nur in seiner Welt und unter seinesgleichen wohlfühlt. Neugierige Coroner kamen darin nicht vor.
    Sie saßen an einem kleinen Tisch, dessen Oberfläche klebte, und tranken muffigen Tee aus dem Automaten. Am Nebentisch gaben Studenten mit Trinkgelagen und sexuellen Eskapaden an, aber der Professor schien nichts davon mitzubekommen. Mit einem Auge beobachtete er Jenny, mit dem anderen die Tür.
    »Sie erinnern sich an Nazim Jamal? Er hat im Herbst 2001 hier zu studieren angefangen«, sagte Jenny.
    »Vage. Er muss in meinen Vorlesungen gewesen sein. Wir sind uns sicher ein, zwei Mal im Seminarraum über den Weg gelaufen.«
    »Können Sie sich an sein Verschwinden erinnern?«
    »Ja, natürlich. Wir erinnern uns alle daran. Schrecklich.«
    »Ich nehme an, die Polizei hat Ihnen damals eine Menge Fragen gestellt.«
    »Sie sind ein, zwei Wochen lang geschäftig hier herumgelaufen. Aber ich hatte den Eindruck, dass sie nicht viel gefunden haben, das ihnen weiterhalf. Der Vorfall blieb ziemlich mysteriös.« Er lächelte fast entschuldigend. »Der Kontakt zwischen den Lehrkörpern und den Studenten ist in den ersten Trimestern nicht besonders ausgeprägt, nicht wirklich persönlich. Die meisten Anfänger würde ich zwar erkennen, aber ich wüsste beispielsweise nicht, was sie sonst in ihrem Leben tun.«
    »Wer war damals die wichtigste Kontaktperson für die Polizei?«
    »Ich, nehme ich an. Ich war praktisch für die jüngeren Studenten zuständig. Wir haben uns ein paarmal getroffen. Aber wie ich schon sagte, es kam nicht viel dabei heraus.« Als ihm bewusst wurde, dass seine Finger nervös auf dem Tisch herumtrommelten, legte er die Hände in den Schoß.
    »Praktisch?«
    »In einem akademischen Sinn. Natürlich, wenn sie mit einem persönlichen Problem zu mir kommen wollten … Aber für solche Dinge haben wir eigentlich andere Anlaufstellen.«
    »Am meisten interessiert mich im Moment die Frage, was die Studenten und die Angestellten über das Verschwinden der beiden Jungen so geredet haben. Es muss doch endlose Spekulationen gegeben haben. Die Leute, die sie kannten, müssen doch irgendeine Theorie gehabt haben.«
    »Überraschenderweise eher nicht. Das war ja das Merkwürdige. Die Polizei hat mit etlichen Studenten aus dem Jahrgang gesprochen, aber der andere Typ …«
    »Rafi Hassan.«
    »Genau. Er schien der Einzige gewesen zu sein, zu dem Jamal wirklichen Kontakt hatte. Selbst die Leute aus seiner Seminargruppe wussten wenig über ihn.«
    »Seine Mutter hat mir erzählt, er sei sehr kontaktfreudig gewesen. Er kam vom Clifton College, hat Tennis gespielt …«
    »Sie meinen, man hätte mehr herausfinden müssen, nicht wahr?«
    Jenny dachte an das Schwarze Brett der Studenten, an dem sie vorbeigekommen war. Es war voll von Flyern, Informationen über bestimmte Zirkel und Ankündigungen politischer Veranstaltungen gewesen. Vieles stammte von muslimischen Gruppen, die Debatten über die Außenpolitik der USA und die Zukunft Palästinas organisierten.
    »Gab es auf dem Campus damals viele islamische Aktivitäten?«
    »Die Polizei hat das behauptet, aber ich kann nicht sagen, dass mir das aufgefallen wäre. Die Studenten der Naturwissenschaften sind sowieso nicht so politisch interessiert wie andere – müssen zu viel lernen, nehme ich an.« Er brach in ein nervöses Lachen aus und schaute dann ängstlich zu zwei Kollegen hinüber, die sich an einem Nebentisch niedergelassen hatten.
    Jenny senkte die Stimme, versuchte eine gewisse Vertraulichkeit zu vermitteln. »Ich bin ehrlich mit Ihnen. Ich

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