Totenstätte
Zeit in widerrechtlicher Haft hat mir vollkommen gereicht. Ich weiß immer noch nicht, ob ich von der Polizei oder von den Geheimdiensten festgehalten wurde. Ich wurde geschlagen und getreten. Man hat mir Essen und Schlaf entzogen. Ich durfte mich nicht waschen, wurde beim Beten gestört und musste auf den Fußboden urinieren. Sie haben nichts gefunden, und ich wurde nicht angeklagt, weder damals noch sonst jemals.« Er beugte sich vor. »Ich sollte wohl äußerst genau hinhören, was Leute, die sich so benehmen, Ihnen erzählen, Mrs. Cooper. Ich sage Ihnen, die haben nichts mit Schuld, Unschuld oder Wahrheit am Hut, sondern wollen einzig und allein Muslime hinter Gitter bringen.«
»Mrs. Jamal hat man erzählt, dass Sie der Hizb ut-Tahrir angehören.«
»Sie klingen genau wie die Polizei. Ich dachte, der Coroner hätte eine andere Funktion?«
Er lehnte sich zurück und betrachtete sie, während er auf eine Erwiderung wartete.
»Nazim Jamal wurde offiziell für tot erklärt. Meine Aufgabe ist es herauszufinden, wie er gestorben ist.«
»Ich dachte, er sei nur vermutlich tot. Das wäre dann kein hinreichender Grund für eine gerichtliche Untersuchung.«
»Dies hier sind die einleitenden Ermittlungen. Mrs. Jamal hat ein paar Jahre in der Vorhölle verbracht. Meiner Meinung nach ist es das Mindeste, was ich für sie tun kann.« Jenny bemühte sich um ein aufrichtiges Lächeln. »Ich nehme an, dass Sie den beiden damals nahestanden oder mit ihnen vielleicht sogar befreundet waren?«
»Ja, eine Weile lang.«
»Gibt es etwas, von dem Sie denken, dass die Familien der beiden es wissen sollten?«
»Da gibt es nichts zu erzählen. Wir sind zur Moschee gegangen und haben manchmal miteinander studiert. Das ist alles.«
»Würden Sie mir verraten, was Sie studiert haben?«
»Religiöse Sachverhalte.«
Sie nickte zum Bücherregal hinüber. »Waren diese Studien politisch?«
»Wir waren Studenten. Wir haben über alles Mögliche diskutiert.«
»Sieben Jahre sind eine lange Zeit. Ich nehme an, Sie haben sich seither verändert?«
Er schüttelte den Kopf. »Sie haben wirklich Ihren Beruf verfehlt, Mrs. Cooper. Ich bin«, er machte eine Pause, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, »und war nie ein Befürworter von Gewalt.«
»Wissen Sie, wohin die beiden verschwunden sind, Mr. Ali?«
Er hielt ihrem Blick stand, ohne zu blinzeln. »Glauben Sie ernsthaft, dann hätte ich es ihren Familien nicht erzählt?«
»Haben die beiden je die Absicht erwähnt, ins Ausland zu gehen, zum Beispiel nach Afghanistan?«
»Nein.«
»Sie wissen, dass die beiden am nächsten Morgen in einem Zug nach London gesehen worden sein sollen?«
»Wenn das stimmt, hatte ich keine Ahnung davon.«
»Die Polizei denkt, dass Sie eine Art Anwerber waren. Angeblich haben Sie idealistische junge Männer angelockt und an gefährliche Fanatiker weitervermittelt.«
»Die Polizei denkt viel und versteht wenig.«
»Was ist Ihrer Meinung nach geschehen? Sie müssen doch eine Theorie haben.«
Er senkte für einen Moment den Blick, wählte seine Worte sorgfältig. »Ich hatte viel Zeit, mir Gedanken zu machen, und kann nur zwei Schlüsse ziehen. Erstens: Auch wenn wir jemanden zu kennen meinen, kann sich herausstellen, dass wir uns in ihm irren. Und zweitens: Selbst in diesem Land zählt das Leben eines Muslims nicht viel.«
»Sagen Sie mir die ganze Wahrheit, Mr. Ali?«
»Die beiden jungen Männer waren nicht einfach irgendwelche Freunde von mir, sie waren meine Brüder. Warum sollte ich Sie belügen?«
Aus allen möglichen Gründen, dachte Jenny, aber es hatte wenig Sinn, die Sache noch weiter zu vertiefen. Das Beste, was sie tun konnte, war, an sein Gewissen zu appellieren und dann zu gehen. »Ich bitte Sie nur um eins«, sagte sie. »Denken Sie an Mrs. Jamal. Nazim war ihr einziges Kind.« Sie holte eine Visitenkarte hervor und legte sie auf seinen Schreibtisch. »Sie hat ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren, auch wenn die Öffentlichkeit sie nicht kennen darf.«
Er stand nicht auf, um sie hinauszubegleiten. Als sie die Hand auf die Türklinke legte, sagte er: »Seien Sie vorsichtig, wem Sie trauen, Mrs. Cooper. Will einem ein Freund die Kehle durchschneiden, so sieht man ihn meistens nicht kommen.«
Alis Abschiedsworte klangen noch in ihr nach. Sie wusste nicht, was sie von ihm halten sollte, war sich aber sicher, dass er in einer Welt lebte, die sie nicht verstand. Und dasser sie nervös gemacht hatte. Gut möglich, dass er früher
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