Totenstätte
Sie nicht wollen, Alison.«
»Habe ich das je behauptet? Ich habe bloß meine Meinung gesagt, Mrs. Cooper. Niemand wird je herausfinden, was mit den beiden Jungen passiert ist. Vor acht Jahren hat man der Polizei ins Handwerk gepfuscht, und Ihnen wird es nicht besser ergehen.«
»Das werden wir ja sehen. Trotzdem: Wenn Sie ein Problem mit dem Fall haben – oder mit Muslimen oder womit auch immer –, dann wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie es einfach sagen würden, damit wir später keine Probleme bekommen.«
»Ich hege tatsächlich keine sonderliche Sympathie für radikale Muslime, Mrs. Cooper. Mich hat es immer komisch berührt, dass wir um jeden Preis nett zu diesen Leuten seinwollen, obwohl wir alles verachten, wofür sie stehen. Nehmen wir nur mal ihre Haltung Frauen gegenüber – wenn mein Mann so denken würde, wäre er in unserer Gesellschaft unten durch, ein Außenseiter.«
»Sind Radikale das nicht immer?«
»Stellen Sie sich versuchsweise einmal vor, Sie wären von deren Ansichten betroffen. Würden Sie dann immer noch so reden?«
»Sprechen Sie aus persönlicher Erfahrung?«, fragte Jenny sarkastisch.
Alison schob ihren Kiefer nach vorn und schaute weg. »Mrs. Cooper, ich bin sehr wohl in der Lage, meine persönlichen Gefühle bei der Arbeit außen vor zu lassen. Ich war fünfundzwanzig Jahre bei der Polizei.« Sie drehte sich um und eilte hinaus. Es herrschte dicke Luft.
7
D ie Anhörung war für Montagmorgen, den 1. Februar, angesetzt worden. Wie viele Coroner im Land hatte Jenny noch immer keinen festen Gerichtssaal. Alison versuchte ihre Kontakte zu den Gerichtsverwaltungen zu nutzen, erfuhr aber, dass in den nächsten Monaten in Bristol keine Räumlichkeiten zur Verfügung standen. Jenny war diese Art der Amtsbehinderung auf unterster Ebene schon gewöhnt. Sie hatte keine Probleme mit den städtischen und dörflichen Rathäusern, die sie bislang für ihre Befragungen benutzt hatte – es gab auch Coroner, die in Pfadfinderheimen unterkommen mussten oder in den Gesellschaftsräumen von Gaststätten ohne Alkoholausschank. Gaststätten, die eine Lizenz besaßen, waren für Anhörungen von Gesetzes wegen nicht zugelassen. Trotzdem sehnte sich ein Teil von Jenny nach der Anerkennung und Würde, die ein richtiger Gerichtssaal mit sich brächte. Alison hatte auch die ehemalige Methodistenkapelle, wo sich sonntags ihre New Dawn Church versammelte, vorgeschlagen, aber Jenny hatte höflich abgelehnt. Schließlich einigten sie sich auf einen bescheidenen Veranstaltungssaal. Er lag am nördlichen Ende der Severnmündung, in einem Dorf nahe des Vogelschutzgebiets Slimbridge. Alison war Mitglied des unterstützenden Vereins und wusste, dass es dort ein ausgezeichnetes Café gab.
Banalitäten dieser Art buhlten um Jennys Aufmerksamkeit im Wettstreit mit gestohlenen Leichen, Mrs. Jamals paranoiden SMS, die jetzt ihre Telefonanrufe abgelöst hatten, und ihren eigenen Plänen, aus der Polizei und den Geheimdiensten so viele Informationen wie möglich herauszukitzeln. Die Symptome akuter Angstzustände verdrängte sie mithilfe von zwei zusätzlichen Betablockern am Tag. Sie hatte Dr. Allen eine E-Mail geschrieben und um Rat gebeten, hatte allerdings nur eine automatische Antwort erhalten, in der ihr mitgeteilt wurde, dass er für eine Woche zum Skifahren in die italienischen Alpen gefahren sei. Für Notfälle hatte sie seine Handynummer, aber sie befürchtete, dass er sie, wenn sie ihn tatsächlich anrufen würde, krankschreiben müsste, auch gegen ihren Willen. Sie hatte keine Wahl, als sich so gut wie möglich durchzuschlagen.
Samstagnacht kamen Ross und Karen spät heim. Jenny wachte von ihrem unterdrückten Gekicher und den stolpernden Schritten auf der Treppe auf. Die beiden zogen sich in sein Zimmer zurück, und kurz darauf erklang Musik. Es war Teil von Jennys Deal mit Ross, dass er seine Freundin mitbringen durfte, wenn ihre Eltern einverstanden waren. Jenny verspürte eine gewisse Befriedigung darüber, dass sie cool genug gewesen war, die Vereinbarung von sich aus vorzuschlagen, aber wenn sie ehrlich war, war es eine Qual. Innerlich wehrte sie sich dagegen, dass Ross zwar wie ein Erwachsener behandelt werden wollte, andererseits aber noch nicht einmal ein Mindestmaß an Verantwortung übernahm. Außerdem war sie auf kindische Weise eifersüchtig. Sie war noch jung genug, um denselben Spaß zu haben wie die beiden jetzt nebenan, aber die Chancen, dass sich das noch einmal ergeben würde, schienen
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