Totenstätte
Schafe standen im Schlamm.
Sie fühlte eine warme Hand über ihre Schulter streichen. Die andere legte sich um ihre Hüfte. Er stand hinter ihr und drückte sie an sich. Dann lehnte sie sich gegen ihn, und er berührte ihr Haar und ihr Gesicht. Er schwieg, als er ihre Tränen spürte.
Mit dem Ärmel wischte sie sich die Augen. »Tut mir leid.«
»Gibt es etwas, worüber du reden möchtest?«
Sie drehte sich um, sah ihn an und schüttelte den Kopf. Er beugte sich vor und küsste sie sanft.
Später saßen sie an dem verwitterten Tisch auf dem Rasen, hatten sich Pullover übergezogen und tranken Tee. Steve rauchte eine dünne Selbstgedrehte, und Jenny zog ab und zu daran, während sie ihm gestand, dass sie seit der letzten Sitzung mit Dr. Allen wieder von ihren alten Symptomen verfolgt wurde. Steve hörte still zu, ließ sie reden und drehte sich eine zweite Zigarette.
Als sie fertig war, fragte er: »Diese Träume hattest du, als du, was, zwanzig warst?«
»So ungefähr.«
»Also, als du erwachsen wurdest. Hast du je darüber nachgedacht, ob die Träume nicht einfach deine Trauer um die verlorene Kindheit sind?«
»Meine Kindheit war nicht schlecht. Sie war nicht besonders glücklich, aber auch nicht besonders traurig. Zumindest nicht, bis meine Mutter gegangen ist. Aber damals war ich schon fast ein Teenager.«
»Das passt doch gut. In deinen Träumen ist es immer die Unschuld, die verschwindet. Darin liegt eine der menschlichen Tragödien: Wenn man die Unschuld einmal verloren hat, dann gibt es keinen Weg zurück.«
»Warum geht es dann anderen Menschen nicht genauso?«
»Wir alle bleiben an einem bestimmten Punkt in unserem Leben stecken. Gott weiß, dass es mir nicht anders ging – ich habe mich zehn Jahre im Wald versteckt.«
»Und wo bin ich stecken geblieben, Mr. Freud?«
»Du hast einen dominanten Mann geheiratet, als du noch sehr jung warst.«
»Aber David war kein Vaterersatz.«
»Ich würde wetten, dass du dich selbst viel besser kennengelernt hast, seit du nicht mehr mit ihm zusammen bist.«
»Geschenkt.«
»Und während der gesamten Zeit deiner Ehe hattest du im Job mit gestörten Kindern zu tun.«
»Wie lautet also deine Theorie?«
»Ich arbeite noch daran.« Er zündete sich mit dem alten Messingfeuerzeug, das sie ihm zum Geburtstag geschenkt hatte, die Zigarette an. »Es wird alles zu viel für dich, du brichst zusammen …«
»Und?«, sagte sie skeptisch.
»Und dann … Dann erholst du dich von dem ganzenMist, indem du dich beruflich total neu orientierst. Fortan beschäftigst du dich mit den Todesarten anderer Leute.«
»Soll heißen?«
»Ein Teil von dir ist gestorben?«
Jenny seufzte. Das Territorium hatte sie bereits abgegrast. »Mein erster Psychiater, Dr. Travis, war davon überzeugt, dass ich missbraucht worden bin. Keine Ahnung, wie oft ich darüber nachgedacht habe, aber ich weiß, dass es nicht stimmt. Es war einfach nicht so.«
»Darf ich noch etwas fragen? Glaubst du, dieser Job ist gut für dich? Könnte es nicht sein, dass ein Teil von dir das Unmögliche versucht? Dass du die Toten wieder ins Leben zurückholen willst, obwohl du eigentlich das Leben seinen Gang nehmen lassen solltest?«
Sie sagte nichts. Seine Worte waren gut gemeint, klangen aber nach einer Anklage.
»Das war nicht so hart gemeint, wie es sich anhört.«
»Allgemein ist man der Auffassung, dass ich meinen Job gut mache.«
»Ich will ja auch nur sagen, dass in deinem Leben ein bisschen mehr Platz für Spaß wäre, wenn du es zulassen würdest.«
»Und der heutige Nachmittag?«
»War ein Anfang.« Er lächelte. »Aber eins solltest du wissen. Egal wie du dich innerlich fühlst, du siehst großartig aus.«
Etwas in ihrem Innern verschloss sich. Sie hasste solche Kommentare. Genauso gut hätte er sagen können, dass sie sich grundlos aufregte.
Er streckte die Hand aus und berührte die innere Seite ihres Handgelenks. Er wollte sie noch einmal verführen.
Sie zog ihre Hand zurück, verschränkte die Arme und zitterte. »Ich mach dann jetzt besser weiter.«
»Klar.« Steve wirkte etwas verletzt. Er stand auf und pfiff nach Alfie, der sofort aufhörte, hinter der Mühle nach Mäusen zu buddeln, und angesprungen kam. Dann blickte Steve zu den Eschen hinüber, die sich vor der Dämmerung abhoben. »Ich habe es dir schon einmal gesagt: Du lebst an einem wunderschönen Ort. Hör auf ihn, vielleicht hat er eine Botschaft für dich.« Sanft berührte er ihre Wange, bevor er schließlich ging und
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