Totenstätte
mit jedem Tag geringer zu werden.
Die beiden blieben bis mittags im Bett, kamen dann gähnend und zerzaust nach unten und klagten darüber, dass siemüde waren. Trotz der gestörten Nachtruhe hatte Jenny in ihrem Arbeitszimmer einen produktiven Morgen verbracht und sich Fragen überlegt, die sie den Zeugen bei der Anhörung stellen wollte. Ein Adrenalinschub hatte ihre unterbewussten Ängste zeitweise vertrieben. Konzentriert und voller Energie ging sie in die Küche, um ein frühes Mittagessen zuzubereiten. Sie konnte sogar den Anblick von Ross und Karen ertragen, die auf dem Sofa hingen und die Vorhänge halb zugezogen hatten, damit – Gott bewahre – das Tageslicht nicht das Fernsehbild stören konnte. Mit übertriebener Fröhlichkeit trug sie Teetassen hinein und hinaus und erntete dafür von Karen sogar ein Dankeschön und ein Lächeln.
Die beiden hingen noch immer vor dem Fernseher, als Jenny stolz mit einer kompletten Mittagsmahlzeit aus der Küche trat. Sie war durchaus in der Lage, eine gute Mutter zu sein.
Nachdem sie den Tisch im Wohnzimmer gedeckt hatte, nahmen sie alle Platz. Ross und Karen schienen überrascht, dass auf fast magische Weise etwas Essbares aufgetaucht war. Jenny versuchte, ein möglichst harmloses Gespräch anzufangen, was sich als ziemlich schwierig erwies. Ross hatte panische Angst, vor seiner Freundin bloßgestellt zu werden. Jedes Mal, wenn seine Mutter den Mund aufmachte, warf er ihr einen giftigen Blick zu. Seine Furchtsamkeit war erstaunlich. Er durfte praktisch alles, was er wollte, benahm sich aber trotzdem wie ein verängstigtes Kind.
Jenny war es leid, sich ständig zusammenreißen zu müssen. »Hat Ross dir erzählt, was am Freitag passiert ist?«, fragte sie Karen. »Aus der Leichenhalle wurde eine Tote gestohlen. Sie ist spurlos verschwunden.«
»Oh Gott, wie schrecklich. Warum denn?«
Ross warf seiner Mutter einen bösen Blick zu. Sie ignorierte ihn.
»Das wissen wir nicht. Es wäre naheliegend, dass sie ermordet wurde und der Mörder jetzt die Beweise vernichten will.«
»Müssen wir die ganze Zeit über deine ekelhafte Arbeit reden?«, unterbrach Ross.
»Mir macht das nichts aus«, sagte Karen. »Das ist doch interessant.«
»Finde ich nicht. Den ganzen Tag mit Toten rumzumachen, das ist doch krank.«
»Aber wir müssen wissen, wie die Leute gestorben sind«, sagte Jenny.
»Ich nicht. Das ist abartig.«
Jenny hob die Hände. »Tut mir leid, dass ich es erwähnt habe.«
»Ich sag ja nur. Sei doch nicht so unentspannt.«
»Ich soll nicht unentspannt sein?«, fuhr Jenny auf. »Ich habe nur versucht, etwas zu tun, damit wir hier nicht rumsitzen und uns anschweigen.«
»Mach dir darüber bloß keine Gedanken.«
»Okay.«
Sie nahm sich noch ein paar Kartoffeln, lächelte Karen zu und aß wortlos. Sie hätte ihm sagen sollen, dass er sich entweder ordentlich zu verhalten hatte oder den Tisch verlassen sollte. Und dass er entweder zum Familienleben beitragen sollte oder sich damit abfinden musste, wie ein Kind behandelt zu werden, wenn er sich so verhielt. Stattdessen schwieg sie. Ihre positive Einstellung verflog, und an ihrer Stelle stieg Panik auf. In Jennys Magen bildete sich ein Klumpen. Als sie ihr Glas nahm, um einen Schluck Wasser zu trinken, zitterte ihre Hand. Gott, wie sie wünschte, es wäre Wein. Ein wenig Alkohol würde den Schmerz vertreiben, die aufsteigenden Tränen zurückdrängen und sie so entspannen, dass sie die Atmosphäre auflockern könnte.
Schnell sammelte Jenny die leeren Teller zusammen und bot an, Apfelkuchen im Ofen warm zu machen. Ross lehnte für sie beide ab und verkündete, dass sie den Nachmittag bei Karen verbringen würden. Er ging zur Tür, ohne auch nur einen Finger krumm zu machen.
»Ross, kann ich kurz mit dir sprechen?«, sagte Jenny.
»Worüber?«
»Karen, würdest du bitte das Geschirr in die Küche bringen? Danke.«
Sie erstickte die Proteste ihres Sohns mit einem Blick, der eine mehr als peinliche Szene versprach, sollte er sich ihr widersetzen. Schmollend folgte er ihr in den Vorraum.
»Kannst du mir bitte mal erklären, was ich dir getan habe? Deine Freundin darf hier übernachten, ich mache für euch beide Mittag, und du kannst dich nicht einmal dazu aufraffen, auch nur ein einziges vernünftiges Wort mit mir zu wechseln«, sagte Jenny.
»Ich habe doch gar nichts gesagt.«
»Genau. Du sitzt nur da und schaust mich an, als würdest du dir wünschen, dass ich mich im nächsten Moment in Luft
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