Totenstätte
auflöse.«
»Du bist immer so schlecht gelaunt. Warum kannst du dich nicht einfach mal entspannen? So wie andere Leute auch?«
»Gütiger Gott, ich tue ja schon mein Bestes.«
»Hm, klar.«
»Wie bitte?«
»Die Atmosphäre hier ist … Ich weiß auch nicht, was mit dir nicht stimmt.«
»Mit mir? Ich habe meinen Teil vom Deal erfüllt. Was soll ich denn sonst noch tun? Sag’s mir. Ich würde es wirklich gerne wissen.«
»Du bist nie entspannt. Nie.«
Jenny öffnete den Mund, aber die Worte blieben ihr im Hals stecken. Sie spürte Tränen aufsteigen.
»Siehst du, was ich meine?«
»Ross …«
Er ging wieder zu Karen zurück ins Zimmer.
Jenny flüchtete in ihr kleines Büro und versuchte, die Tränen zu stoppen, die ihr ohne Pause die Wangen hinunterliefen. Sie hatte den verzweifelten Wunsch, zu Ross zu gehen und sich zu versöhnen, aber mit den roten Augen konnte sie Karen nicht gegenübertreten. Aus ihrem Refugium hörte sie, wie die beiden den Tisch abdeckten, den Geschirrspüler einräumten und dann leise durch die Hintertür das Haus verließen, um ja nicht das Risiko einzugehen, ihr beim Hinausgehen über den Weg zu laufen.
Der Himmel war noch blauer und klarer als im Sommer. Der Bach am Ende des Gartens, gleich hinter der verfallenen Mühle, war tief, sein Wasser sauber. Kleine braune Forellen sammelten sich im Sonnenlicht, um die ersten warmen Strahlen des Jahres einzufangen. An den Ufern aus Schiefergestein brachen zarte Krokusse und Schneeglöckchen aus der kalten Erde. Für Jenny war es eine Offenbarung gewesen zu realisieren, dass die Natur im Winter nicht schlief. Als sie noch in der Stadt gewohnt hatte, war ihr irgendwann im April vielleicht mal aufgefallen, dass die Bäume grün geworden waren. Aber jetzt hatte sie einen ganzen Winter lang mitten in der Natur gelebt, und selbst als die Bäume im Dezember ihre letzten Blätter fallen gelassen hatten, konnte sie bereits neue Knospen entdecken. Es gab keinen Stillstand. Das Leben war ein ewiger, unaufhaltsamer Kreislauf.
Mit diesen Gedanken tröstete sie sich, als sie über ihr mehr als tausend Quadratmeter großes Grundstück schlenderte, um den Frieden zu genießen, bevor sie wieder an ihrenSchreibtisch zurückkehren würde. Als ihre Finger über das dicke, weiche Moos an der bröckligen Wand des Mühlenschuppens fuhren, spürte sie die zarten Blätter eines Stechpalmentriebs, der aus dem Kalkmörtel spross. Alles Alte und Verrottete diente als fruchtbarer Boden für Neues.
Als ein vager Optimismus ihre Melancholie zu verdrängen schien, erlaubte sie sich den Gedanken, dass Ross nur eine weitere unausweichliche Phase durchmachte. Um eine eigenständige Persönlichkeit zu werden, musste er sie zurückweisen. Ob begründet oder unbegründet spielte dabei keine Rolle. Wenn sie das nur verstehen würde, wäre es auch erträglicher. Er würde wegziehen, seinen Weg finden und irgendwann als selbstsicherer junger Mann zurückkehren. Nicht sie selbst war es, die er zurückwies, oder eine bestimmte Atmosphäre, er löste sich nur von den Fesseln der Kindheit. Sie wünschte ihm mehr Glück dabei, als sie selbst es gehabt hatte. Sie hatte ihre Lebensmitte erreicht und kämpfte noch immer mit psychischen Problemen, die sich im Moment sogar zu verfestigen schienen.
Hinter sich hörte sie ein Hecheln und Schritte. Sie drehte sich um und sah Alfie über den zugewucherten Karrenweg, der an ihrem Haus vorbeiführte, auf sich zukommen. Der Hund sprang in den Bach und schnappte nach den kleinen Wellen. Einen Moment später erschien auch Steve. Er trug nur ein T-Shirt und Jeans, den Pullover hatte er sich um die Schultern gehängt.
»Herrlicher Tag«, sagte er beim Näherkommen. »Störe ich?«
»Nein.«
Er trat neben sie ans Ufer. »Anstrengende Woche?«
»Ja. Und bei dir?«
»Ich musste mich um ein Projekt in Manchester kümmern, für das wir uns bewerben wollen. Furchtbar. Der Architektenfluch – man möchte alles niederreißen und von vorne anfangen.«
»Ich habe mich schon gefragt, wo du bist.«
»Ich wollte dich anrufen …«
»Das musst du nicht.«
»Vielleicht doch?« Er lächelte sie erwartungsvoll an.
Sie zuckte mit den Achseln und wünschte, sie könnte herzlicher sein, aber ihr fragiles inneres Gleichgewicht drohte zu kippen. All die Gefühle, die sie bewältigt zu haben glaubte, stiegen wieder in ihr auf.
»Geht es dir gut?«
»Ja.« Sie schaute auf das Weideland und den Wald, die hinter der Mauer begannen. Ein paar hoch trächtige
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