Totenstätte
erneut die Aussagen zu sichten und dann zu entscheiden, worauf sie ihre begrenzten Energien konzentrieren sollte. Sie nahm den Block mit ihren Anmerkungen zu den Zeugen vom ersten Anhörungstag und las alles noch einmal durch. Bei Anwar Alis Notizen hatte sie ein komisches Gefühl. Der Mann unterhielt enge Kontakte zur BRISIC, und irgendetwas an seinem Auftreten legte nahe,dass er noch immer dieselben islamistischen Gesinnungen hegte wie vor acht Jahren. Bevor Jenny Madogs Geschichte gehört hatte, hätte sie Alis Rolle in dem Fall vielleicht darin gesehen, Nazim und Rafi anzuwerben und mit einer dritten Person zusammenzubringen, die sie anschließend außer Landes schaffen sollte. Mit dem jetzigen Wissensstand boten sich viel abwegigere Möglichkeiten an. Eine davon war, dass Ali für die Regierung arbeitete und potentielle Extremisten identifizierte und über sie berichtete. Obwohl das nicht sonderlich wahrscheinlich war, wurde Jenny bewusst, dass sie eine Welt betreten hatte, in der die normalen Regeln nicht mehr galten.
Dani James war weniger mysteriös, aber ihre Aussage hatte beunruhigende Fragen aufgeworfen. Dass sie ein paar Tage vor seinem Verschwinden mit Nazim geschlafen hatte, könnte Mrs. Jamals Behauptung bestätigen, ihr Sohn habe verändert gewirkt. Was andererseits nicht in dieses Bild passte, war McAvoys Erinnerung, Mrs. Jamal habe bereits zuvor von einer möglichen Beziehung ihres Sohns gesprochen. Alles, was Mrs. Jamal bislang erzählt hatte, erweckte den Eindruck, als wäre Nazim in seinem ersten Trimester plötzlich sehr religiös geworden. Sein Verhalten im Juni hatte wiederum so gewirkt, als hätte er sich erst vor Kurzem aus doktrinären Bindungen befreit.
Sie musste noch einmal mit Mrs. Jamal sprechen. Offiziell hätte sie sie noch einmal in den Zeugenstand rufen und mit McAvoys Behauptung konfrontieren müssen, aber Jenny war klar, dass sie in einem privaten Rahmen sehr viel mehr preisgeben würde. Es wäre zwar einfacher, sich hinter den Regeln zu verstecken, aber derselbe Instinkt, der überhaupt erst ihr Interesse an diesem Fall geweckt hatte, ließ ihr nun keine Wahl. Manchmal musste das Recht hinter dem Gefühl der Richtigkeit des Handelns zurückstehen.
Amira Jamal lebte in einem modernen fünfstöckigen Haus in einer gepflegten, begrünten Straße nördlich vom Stadtzentrum. In einem schlichten schwarzen Kostüm mit einem langen Batikschal erwartete sie Jenny im dritten Stock am Fahrstuhl. Gemeinsam gingen sie in die kleine, saubere Wohnung, wo sie im Wohnzimmer zwischen den Andenken an Nazims kurzes Leben Platz nahmen. Obwohl sie noch nicht lange als Coroner arbeitete, konnte sich Jenny nicht erinnern, wie viele Wohnungen sie bereits gesehen hatte, die als Schrein für verlorene Angehörige dienten. Ungewöhnlich in dieser war ein Regalbrett mit sorgsam beschrifteten Dokumentenkästen, die alle in irgendeiner Weise mit Nazims Verschwinden oder mit dem anschließenden Briefwechsel mit den Behörden zu tun hatten. Direkt darunter stand ein kleiner Schreibtisch mit Laptop, daneben lagen verschiedene Unterlagen und ein Buch mit dem Titel Einführung in die Untersuchungen eines Coroners .
Mrs. Jamal hatte Tee gekocht und den Tisch mit ihren besten Tassen gedeckt. Mit zitternder Hand schenkte sie Jenny ein. »Es tut mir leid, wie ich mich am Telefon verhalten habe, Mrs. Cooper. Manchmal kann ich mich einfach nicht beherrschen.«
»Ich verstehe.«
»Ich sehe sein Gesicht als kleiner Junge vor mir. Es ist, als würde ich ihn noch im Arm halten.«
»Heute scheint es Ihnen besser zu gehen.«
»Ich habe getan, worum Sie mich gebeten haben, und bin zu meiner Ärztin gegangen. Sie hat mir Tabletten gegeben.« Sie schüttelte den Kopf. »Mein ganzes Leben lang habe ich keine Medikamente genommen.«
Jenny griff nach ihrer Teetasse, stellte sie aber gleich wieder ab. Die Situation war ihr unangenehmer, als sie erwartet hatte. »Mrs. Jamal, ich habe noch ein paar Fragen an Sie …«
»Zuerst würde ich Sie gerne etwas fragen, Mrs. Cooper. Warum haben Sie die Anhörung eingestellt? Was sind die wahren Gründe?«
»Sie wurde nicht eingestellt, sie wurde nur auf Montag vertagt. Ihr ehemaliger Anwalt Mr. McAvoy hat mir etwas erzählt, das ich erst noch nachprüfen sollte.«
Erschrecken, das fast schon an Panik grenzte, zeichnete sich auf Mrs. Jamals Gesicht ab. »Was denn?«
»Ich erzähle es Ihnen unter der strikten Bedingung, dass es unter uns bleibt. Versprechen Sie mir das?«
»Ja
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