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Totenstätte

Totenstätte

Titel: Totenstätte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. R. Hall
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kondensierte zu einer dichten Dampfwolke. Er blieb stehen und fixierte Jenny mit einem schmerzlichen, ernsten Blick. »Als die beiden verschwanden, hatte ich das Problem bestenfalls ansatzweise verstanden. Wenn ich aber im Nachhinein ein Profil des idealen Anwärters für die extremistische Sache entwerfen sollte, würde ich die beiden für mustergültige Kandidaten halten. Sie kamen aus der Mittelklasse, waren hochintelligent, ehrgeizig, kulturell entwurzelt und so emotional empfänglich wie alle jungen Leute. Man musste sie nur abholen. Jetzt, acht Jahre später, gibt es nicht mehr nur ein oder zwei oder zehn vonihrer Sorte, jetzt gibt es Hunderte und Tausende von ihnen.« Er sprach mit gequälter Leidenschaft. »Wir leben in einem Land, das sich nicht kennt, Mrs. Cooper. Wir machen weiter und kämpfen ums Überleben, aber wir wissen nicht, warum wir es tun.«
    Nachdem er anscheinend gesagt hatte, was ihm am Herzen lag, zog Miah sich wieder hinter seine akademische Fassade zurück. Er erzählte Jenny, dass sowohl der MI5 als auch die Polizei ihn damals ausgiebig befragt hätten, dabei aber nichts herausgekommen sei. Als sie wissen wollte, ob sie sich in letzter Zeit wieder bei ihm gemeldet hätten, verneinte er. Sein Vertrauen, dass der Staat mit dem Problem fertig werde, habe sich im Übrigen in Luft aufgelöst, sagte Miah. In Kommissionen engagiere er sich schon lange nicht mehr, und er schreibe auch keine Berichte mehr für Regierungsbehörden. Lieber Bücher und Artikel. Außerdem tue er alles, um seinen Studenten Werte zu vermitteln, die sie gegen den Extremismus schützten.
    »Aber die Fundamentalisten haben einen guten Punkt«, sagte Miah, als sie wieder zum Gartentor kamen und ihre Unterhaltung sich dem Ende zuneigte. »Ohne eine Geschichte, mit der wir uns unserer Identität vergewissern können, sind wir ein Nichts.«
    Miahs Worte klangen in ihren Gedanken nach, als sie durch feinen Sprühregen zum Büro zurückging. Sie hatten Jennys Dämme durchbrochen und setzten nun die Fluten in Bewegung, die ihr Medikament eigentlich in Schach halten sollte. Jenny selbst hatte keine Geschichte und suchte nach den Bruchstücken ihrer Kindheit, die erklären könnten, was bedrohlich und nicht greifbar in ihrem Innern lauerte. Seine Worte hatten dazu geführt, dass sie den Realitätssinn noch stärker verlor. Jedes Gesicht auf der Straße, egal ob faltigoder jung, schön oder hässlich, schien sich mit der ihm eigenen Geschichte zu identifizieren und in einer Sicherheit zu wurzeln, die Jenny selbst vor langer Zeit verloren hatte.
    Sie kam an einem Blumenladen vorbei, betrachtete sich im Schaufenster und hätte sich fast nicht wiedererkannt. Ein gespenstisches, durchsichtiges Wesen schaute sie an. Ihre Brust und ihr Hals krampften sich panisch zusammen. Schnell beschleunigte sie ihren Schritt, konzentrierte sich auf die Kraft in ihren Armen und Beinen, die Luft in ihren Lungen, das Leben in ihr. Ihr Zustand wurde von dem überwältigenden Bewusstsein von etwas Abwesendem bestimmt. Rafi und Nazim hatten nie existiert. Die Leere war schon wieder gefüllt gewesen, bevor sie sich ihrer auch nur bewusst geworden waren. Als Jenny über die Straße eilte und Autos auswich, erinnerte sie sich an den Satz vom horror vacui aus längst vergangenen Schuljahren: Die Natur hasst den leeren Raum. Wenn die Natur aber keine Abwesenheiten duldete, dann mussten es, wie Jenny immer befürchtet hatte, verderbte und unnatürliche Mächte sein, die für die Risse in der Wirklichkeit verantwortlich waren und die nicht verwurzelten Seelen mit sich rissen.
    Als sie ein paar heruntergekommene Läden passierte, wandte sie den Blick von deren billigen Fensterscheiben ab, und schon wieder spülten ihre rasenden Gedanken eine neue Einsicht hervor: Das Böse, dem sie in ihren Träumen begegnete, war eine Abwesenheit. Ein Nichts, dem wahre Unschuld leicht zum Opfer fallen konnte.
    Nazim und Rafi waren spurlos in dem Strudel dieser Mächte verschwunden, und jetzt war die Reihe an ihr und an all den Leuten um sie herum, ihnen zu folgen.
    Jenny lehnte sich gegen die vertrauenerweckend massive Haustür und begab sich in das Heiligtum ihres Büros. Daskurze Gespräch mit Tariq Miah hatte sie unverhältnismäßig stark aufgewühlt, doch hier war sie an einem Ort, wo sich ihr der Sinn der Dinge erschloss. Hier hatte sie Zugriff auf ihre Bücher und den ganzen Bürokram, auf all die Dinge, die ihr zeigten, wer sie war und wofür sie stand.
    Als Jenny eintrat,

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