Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)
Tochter mit herzlicher Freude und wandte sich dann Richard und mir zu. Sein Blick war flink, sein Lächeln unangestrengt höflich. »Sie sehen weit gereist aus«, bemerkte er mit der leisen Stimme der Mächtigen. »Ich lasse Ihnen gleich einen Imbiss zubereiten.«
Derya schüttelte den Kopf. »Lass mal, Paps. Ich möchte eigentlich nur ins Bett.«
»Und Sie, meine Herren?«
Er konnte nicht anders. Die Narben in meinem Gesicht sorgten dafür, dass bei Zweifeln an meiner Geschlechtsidentität der Zeiger meist in Richtung Mann ausschlug. Ich sah keinen Grund, Groschenkamp zu korrigieren, Derya allerdings schon. »Paps, das ist Lisa Nerz«, sagte sie. »Eine Lokaljournalistin aus Stuttgart.«
»Angenehm«, sagte er. Ein lustiges und lüsternes Glitzern trat in die Augen des Alten. »Ich darf davon ausgehen, dass ich für meinen Irrtum nicht um Verzeihung bitten muss. Sie legen es darauf an.«
»Wie Sie meinen«, erwiderte ich.
»Der Hund ist stubenrein?«
»So alt ist er noch nicht, dass er inkontinent wäre«, antwortete ich.
Das lustige Glitzern verschwand aus den Augen des Alten, das lüsterne blieb.
»Und, Paps, das ist Dr. Richard Weber.«
»Sehr erfreut. Sie sind Staatsdiener, hat meine Tochter am Telefon angedeutet?«
Wie er den »Staatsdiener« auf den Teppich spuckte, klang es ungefähr so herablassend wie Deryas »Lokaljournalistin«. Mit zwei Worten hatten sie unsere soziale Position in Relation zu den Marmorsäulen der Villa definiert. Ich verspürte das Zucken von Unterschichtstolz und kramte nach Arbeiterliedern. Dabei vergab der Mann, der sich einen Privatjet hielt, Kleinkredite ins Schanzenviertel, wie ich mich erinnerte, finanzierte Nähereien, Miniläden, Übersetzungsbüros und Kleinwerkstätten, übernahm soziale Verantwortung. Allerdings, wie er uns signalisierte, mit der Haltung des Gutsherrn.
Richard besaß mehr Erfahrung als ich im Umgang mit den Schwächen derer, die Geld zum gewichtigen Teil ihrer Identität gemacht hatten. Meistens lernte er sie als Kriminelle kennen. Das setzte ihn früher oder später in eine Position der Überlegenheit. Erst am Morgen hatte er mir erklärt, Oiger Groschenkamp sei die zentrale Figur im Kalteneck-Fall, die Spinne im Netz. Und gefährlich. Er tat jetzt gut daran, aus dem Spuck-Wort Staatsdiener keinen Staatsanwalt zu machen. Nur als Mann an der Seite von Groschenkamps Tochter war er hier geduldet.
Er lächelte also sein knappstes Lächeln und sagte: »Bitte erlauben Sie mir, Ihnen im Namen aller dafür zu danken, dass Sie uns mit Ihrem Jet zu Hilfe geeilt sind.«
»Ein alter Mann freut sich, wenn seine Tochter ihm erlaubt, ihr einmal aus einer kleinen Notlage zu helfen.«
»Tja, mitgefangen, mitgehangen«, kommentierte ich. »Man muss nur die falschen Leute kennen, gell?«
Derya zuckte zusammen, aber ihr Vater lachte betont wohlwollend. »Haha. Dann muss ich es wohl als Ehre betrachten, wenn Sie mein Angebot annehmen, die Nacht in meinem Haus zu verbringen.«
Ich verbeugte mich.
»Gut, also wenn ich Ihnen sonst nichts Gutes tun kann …«
Er brachte uns hinauf in den dritten Stock. Derya besaß ein eigenes Zimmer in der Villa. Das ersparte Richard und mir die Konfrontation mit seiner sonst womöglich fällig gewordenen Entscheidung, sich mit Derya das Zimmer zu teilen. Oiger öffnete mir und Cipión eine Zimmertür und wünschte mir, wohl zu ruhen. Dann ging er mit Richard weiter.
Im Zimmer herrschte der totale Blick über Elbe und Hafen mit der Landebahn des Airbus-Werks Finkenwerder, Lichtern, Kränen, Containerstapeln und Schiffen.
Das Bett war frisch bezogen, es lagen Handtücher bereit, es gab ein Bad mit Dusche und Wanne aus Marmor mit goldenen Wasserhähnen. Als ich frisch geduscht unter den Laken lag und das Licht löschte, war die Eroberung des Zimmers durch den Hafenblick so vollständig, dass ich kurz vor dem Koma hätte stehen müssen, um die Augen zumachen zu können. Es schwirrte mir auch zu viel im Kopf herum, was ich gern mit Richard besprochen hätte.
Ich hatte den Flug im Halbschlaf verplempert, nachdem sich Derya und Finley in der Wartehalle des GAT verbissen darüber gestritten hatten, wie das Price-Experiment zu bewerten sei, das in den siebziger Jahren bei der amerikanischen Führung die ernste Besorgnis ausgelöst hatte, Psi-Mächte seien größer als gedacht. Im Rahmen des US -Programms Stargate hatte ein gewisser Pat Price 1973 den Auftrag bekommen, ein geheimes sowjetisches Militärgelände im kasachischen
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