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Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)

Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)

Titel: Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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Semipalatinsk auszuspähen, und zwar mit Hilfe spiritueller Kräfte. Er sollte sich dorthin denken und beschreiben, was er auf dem Gelände sah, von dem man heute weiß, dass es ein Atomtestgelände war, auf dem fast fünfhundert Atomexplosionen gezündet wurden, teils oberirdisch, teil unterirdisch.
    »Price hat Industriegebäude skizziert«, sagte Derya. »Und den Stahlkran!«
    »Der allerdings war dem CIA vorher schon bekannt«, antwortete Finley. »Im einfachsten Fall hat jemand Price davon erzählt, im andern hat er diese Information telepathisch übermittelt bekommen, und zwar aus unmittelbarer Umgebung.«
    »Und was ist mit den Gaszylindern und den riesigen Stahlkugeln, die er skizziert hat? Die waren damals niemandem im Westen bekannt. Sie wurden erst ein Jahr später von Spionen fotografiert.«
    »Ja, Derya, aber es ist kein Beweis für Hellseherei. Es gab genügend Menschen, die genau wussten, wie es in Semipalatinsk aussieht, nämlich alle, die dort arbeiteten. Und damit sind wir immer noch im Bereich der Telepathie. Was mich übrigens am Price-Experiment immer am meisten gewundert hat, ist, dass Price nicht herausbekommen hat, was sie dort machen. Das wäre doch das Mindeste gewesen, findest du nicht? Stattdessen skizziert er Kugeln.«
    »Er hat sehr wohl gesagt, dass er vermutet, dass sie für Atomtests gedacht waren.«
    »Er hat es vermutet. Vermutet hat das jeder. Aber er hat es nicht gewusst, Derya.«
    Richard, der sich nach der Ruderei in der vergangenen Nacht wegen einsetzenden Muskelkaters etwas schwerfällig bewegte, hatte auf Deryas Geflüster nur einsilbig geantwortet. Ich hatte eigentlich wach bleiben wollen, um die beiden am Geturtel zu hindern, doch mein Bewusstsein hatte sich immer wieder in Sekundenschlaf verabschiedet. Dabei hätten wir so viel zu besprechen gehabt! Unendlich viel. Ich versuchte nach losen Enden zu haschen, die in meinem Kopf herumbaumelten. Sie entglitten mir, sobald ich sie zu fassen versuchte. In meinem Denken herrschte Elusivität.
    Kann es diesen Ausschlag der Medien ins Fiktive wirklich geben? Journalisten wollen nichts Böses, aber sie wissen vieles nicht und füllen die Lücken. Doch ja, das ist möglich. Oder haben wir uns das alles nur eingebildet, verschworen zur Gemeinschaft der Famous Five im Abenteuerwahn? Es hatte keinen Sinn, darüber nachzudenken.
    Wir müssen unbedingt beweisen, schärfte ich mir ein, dass Juri Katzenjacob das Erdbeben nicht ausgelöst hat. Richard muss klären, ob er Besuch vom Anwalt hatte. Ich muss herausfinden, ob Dora Asemwald weiß, wer der Shinobi ist, und ob der Twitterer Verbindung zu Katzenjacobs Anwalt hat. Und wir müssen nach Neuschwanstein.
    Das Bett war der falsche Ort für meinen Zustand. Ich brauchte einen Computer mit Link in die bekannte Welt. Oder einen Fernseher, wenigstens ein Radio. Irgendwas, das mir versicherte, dass alles im Lot war, geerdet, genordet. Außerdem hatte ich Hunger. Ich hatte den ganzen Tag nichts gegessen vor lauter Stress, meinen soziokulturellen Tod in Beziehung zu Richard abzuwenden. Aber wollte ich daran sterben?
    Um halb vier stand ich auf, zog mich an und verließ mit Cipión unterm Arm das Zimmer mit dem protzigen Hafenblick. Die Villa war ein Haus ohne Spuk. Selbst in tiefer Nacht wirkte es übersichtlich. Die Küche stammte aus Zeiten von Hanse und Hausangestellten, mittlerweile aber mit Stahl und Kochinsel eingerichtet. Der Kühlschrank war gut gefüllt und offenbarte den bodenständigen Geschmack des Hausherrn, wenn auch auf Delikatessniveau: Wurstwaren, Käse, Eier, Senf, ein Kartoffelsalat, Schinken, na ja, und eine Dose Beluga-Kaviar. Das musste schon sein.
    Ich gab Cipión reichlich vom gekochten Schinken und belegte mir ein Brot mit Käse und Tomaten, dazu Cola. Auf dem Küchenbalkon, der seitlich hinausging, rauchte ich eine Zigarette und sah dem Himmel beim Hellwerden zu. Schließlich spülte ich Glas und Messer und beseitigte die Krümel. Gestärkt und zu Endgültigem aufgelegt, machte ich mich auf die Suche nach Groschenkamps Heiligtum. Esszimmer, der Salon, in dem wir empfangen worden waren, ein Konferenzzimmer mit langem Tisch und dann endlich das Arbeitszimmer.
    Auch hier herrschte der Blick auf den Hafen. Oiger hatte den antiken Schreibtisch so gestellt, dass er seitlich das Fenster und gegenüber die Tür hatte. An dieser Wand hing eine auf Holz aufgezogene Weltkarte. Etliche Städte in Europa, in den USA , in Südamerika, aber auch im Nahen und ferneren Osten waren mit

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